Ich war Hitlerjunge Salomon
Brust prangte das Eiserne Kreuz. Er war die
Verkörperung des Junkers, Sohn konservativer preußischer
Adliger. Für mich war er der Inbegriff des Nazis. Befand ich
mich in seiner Nähe, verkrampfte ich mich unwillkürlich.
Ich fürchtete, daß er Verdacht schöpfen und mich aushor-
chen könnte, oder Ermittlungen anstellen ließ und dann aus
meinen stammelnden Antworten die Wahrheit heraushören
würde. Er hatte schon wiederholt Interesse für meine Person
bekundet und fragte regelmäßig nach mir. Stets antwortete
ich lächelnd, daß es mir gut ginge, doch verbarg das Lächeln
schlecht die Röte, die mir ins Gesicht stieg.
Jetzt sollte ich in seinem Zelt vorstellig werden. Würde es
diesmal auf ein strenges Verhör hinauslaufen, dem ich nicht
gewachsen war und unter dem ich zusammenbrechen würde?
Ich flehte Gott um Beistand an.
Mit der Zeit hatte ich mir eine einfache, überzeugende
Geschichte zurechtgelegt, die ihr Mißtrauen zerstreuen und
mir lästige Fragen ersparen sollte. Ich hatte vor zu erzählen,
ich sei sehr früh Waise geworden, weshalb man mich ins Wai-
senhaus von Grodno gebracht habe. An meine Eltern könne
ich mich kaum erinnern und wisse auch nicht viel von meiner
nächsten Verwandtschaft. Kurz: Ich sei allein auf der Welt.
Um glaubwürdiger zu wirken, hatte ich mir noch eine Tante
ausgedacht. Die habe mich früher hin und wieder besucht,
und mit der hätte ich auch deutsch gesprochen. Wohin sie
das Schicksal verschlagen habe, wisse ich nicht.
Ich schritt zügig aus wie ein Soldat, der zum Appell
beim Kommandanten antreten muß. Ich war in höchstem
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Alarmzustand. Im Zelteingang standen Wachen. Ich trat
heran und salutierte zackig. Innen hörte man wohl, wie ich
die Hacken zusammenschlug. Das gefiel, und ich wurde mit
einem Lächeln empfangen. Hauptmann von Münchow bot
mir einen Platz an, und der Gefreite Gerlach mußte Wein
und Gebäck auftragen. Plötzlich kamen mir Zweifel. War dies
ein Traum oder Wirklichkeit? »Hast du schon einmal Wein
getrunken?« fragte mich der Hauptmann. Ich verneinte. Ich
hatte meine Lektion gelernt. Ich war in der Lage, die Wahrheit
zu denken, während, ohne daß ich mit der Wimper zuckte,
genau das Gegenteil aus meinem Munde kam.
War der Herr Hauptmann naiv? Er hätte sich doch sagen
müssen, daß ich zumindest am Seder abend vier Gläser Wein
getrunken habe. Diese Mizwot , diese angenehmen Pflichten
eines gläubigen Juden, mochte ich besonders gerne. Ich ent-
sinne mich, daß mein Vater einmal an einem Sabbat vor dem
traditionel en Essen ein Stück süße Hala , das weiße Zopfbrot,
in ein stark alkoholisches Getränk getaucht und es mir zu
kosten gegeben hatte. Ich wäre fast erstickt, Tränen traten mir
in die Augen, und die Umsitzenden brachen in schallendes
Gelächter aus.
Während ich an diese glücklichen Augenblicke in meinem
Vaterhaus dachte, antwortete ich, daß das Essen im Waisen-
haus ungenießbar gewesen sei und selbstverständlich nie ein
Tropfen Wein meine Lippen benetzt habe.
»Wenn das so ist, kannst du ja mal einen guten Wein, ei-
nen deutschen Mosel probieren.« Der Wein rann angenehm
die Kehle hinab, das Gebäck war mürbe und köstlich. Was
für ein schöner Krieg für den Herrn Hauptmann, dachte ich.
Es entspann sich eine lockere Unterhaltung. Hauptmann von
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Münchow äußerte nicht den leisesten Zweifel oder Verdacht,
als ich ihm mein Leben so erzählte, wie ich es mir vorgenom-
men hatte. Ich war beinahe erstaunt darüber. Ich meine sogar,
diese Geschichte machte mich ihm sympathischer. Er lobte
meinen Mut, mein tadelloses Betragen, meine ausgezeichnete
Disziplin. Dann machte er mir einen verblüffenden Vorschlag.
Er besaß ein großes Gut in Stettin in Pommern, war sehr
reich, hatte aber keine Kinder. Und da ich ihm so gefiel,
wollte er mich adoptieren … »Du wirst dann kein Waisen-
kind mehr sein und in deinem neuen Vaterland ein schönes
Zuhause bekommen.«
Ich fiel aus allen Wolken. Etwas in mir flüsterte: »Wie
kannst du dem zustimmen, du hast doch Eltern! Wäre das
nicht ein Verbrechen an ihnen?«
Mein Gewissen rebellierte, und ich zögerte mehrere Se-
kunden lang. Die widersprüchlichsten Gedanken schossen
mir durch den Kopf. Dann sagte ich: »Ich möchte gern.« Es
gelang mir sogar, glücklich auszusehen und zu lächeln. Er
bemerkte nicht, konnte gar nicht bemerken, was in diesen
Augenblicken wirklich in mir vorging. Äußerlich schien ich
ruhig und
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