Ich war Hitlerjunge Salomon
worden
war. Wir stellten uns ganz in der Nähe auf. Rings um mich
erreichte die Begeisterung ihren Höhepunkt, als handelte es
sich um eine Entdeckung, von der der Kriegsverlauf abhing
und die den ›Endsieg‹ herbeiführen könnte.
Alle waren in bester Feiertagslaune. Wir fühlten uns mit-
verantwortlich, hatten wir doch erstklassige Präzisionsteile
hergestel t und sie in Windeseile vor dem letztmöglichen Termin
gerade noch fertigbekommen. Die von uns zusammengebau-
ten Teile waren zum Chassis des neuen Fahrzeugs verwandt
worden. Auch diese »Räder rollen für den Sieg«, hatte man
uns gesagt. Plötzlich erscholl das Kommando »Ruhe«. Der
große Moment war gekommen.
Wir hörten Motorengeräusche, und dann tauchte auf dem
Gipfel der künstlichen Anhöhe der Schwimmwagen auf, der
auf den ersten Blick nicht anders aussah als ein normaler
Geländewagen. Dann brauste er den Abhang hinab. Die Zu-
schauer hielten den Atem an und verkniffen das Gesicht vor
Spannung, bis das Fahrzeug unten klatschend auf dem Wasser
aufsetzte, das nach allen Seiten hochspritzte. Im selben Au-
genblick wurde eine Art Schiffsschraube am Heck des Wagens
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angeworfen, und tatsächlich, er ging nicht unter, sondern
schwamm! Wir waren entzückt, und die anderen auch. Ich
ließ mich von dem Beifallssturm mitreißen.
Die Erprobung war gelungen, »das Vaterland gerettet«.
Trotzdem verhinderte die Erfindung des Amphibienfahrzeu-
ges die Niederlage nicht.
Berauscht vom Vergnügen und von der Freude über den
Erfolg, kehrten wir nach Braunschweig zurück. Die Heime,
die Klassenräume und Werkstätten füllten sich mit begeister-
ten Jugendlichen, die nun ein noch stärkerer Schaffens- und
Tatendrang beseelte.
Wir lernten noch engagierter, bohrten, schraubten und
schmierten weiter an unseren kleinen Rädchen in dieser gi-
gantischen Kriegsmaschinerie. Später wurde hier auch die
Vergeltungswaffe V1 gebaut.
Die Bombenangriffe der Alliierten auf Städte und Indu-
strieanlagen untergruben unterdessen die Moral des Volkes,
störten nachhaltig das Al tagsleben. Der Sieg wurde ungewisser.
Mit ihren blauen Augen begannen sie zu sehen, was wirklich
geschah, und sie zitterten angesichts der Blutströme, die ihre
Wunden nicht aufhören wollten zu vergießen.
Eines Tages wurde der Unterricht abrupt beendet. Wir
wurden aufgefordert, uns in die große Halle der Schule zu
begeben, um gemeinsam der Rede des Reichspropagandami-
nisters Joseph Goebbels zu lauschen. Die Rede wurde direkt
von der Massenversammlung im Berliner Sportpalast über-
tragen. Doch zuvor zählte der Sprecher die Anwesenden auf:
In der ersten Reihe saßen Schwerkriegsbeschädigte mit ihren
Medail en auf der Brust; nicht wenige waren verkrüppelt oder
noch in Gips, hinter ihnen hatten Wehrmachtsangehörige,
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Abordnungen der braunen und schwarzen Organisationen
und die Menge der Bürger Platz genommen.
Ich versuchte mir vorzustellen, was geschehen würde. Hier
und da wurde wieder Hoffnung laut. Dann erklang Goebbels’
erregte Stimme, und er heizte die Atmosphäre auf, indem er
der versammelten Menge einhämmerte, daß die »unendlichen
Kraftreserven« des deutschen Volkes noch nicht erschöpft seien.
Er verurteilte scharf die Luftangriffe der »im Dienst der Juden
stehenden« Engländer und Amerikaner als barbarisch. Dann
die Eskalation mit der Frage: »Wollt ihr den totalen Krieg?«
Der Stoff vor den Lautsprechern vibrierte und wollte schier
zerreißen, als die johlende und enthemmte Menge ihm sein
»Ja« entgegenbrüllte.
Der totale Krieg wurde ausgerufen. Das Blut jedes
feindlichen Fliegers, der auf deutschem Gebiet abstürz-
te, durfte ungestraft vergossen, er auf der Stelle gelyncht
werden. In zahlreichen früheren Vorträgen waren die Bri-
ten als die natürlichen und potentiellen Verbündeten des
arischen Deutschland dargestellt worden. Aufgrund des
beiden Völkern gemeinsamen arischen Blutes wurden die
Engländer aufgefordert, sich Deutschland anzuschließen,
um das Abendland zusammen von der Gefahr des jüdi-
schen Bolschewismus zu befreien. Es kam anders, folglich
wurde Vergeltung geschworen, die V1 gebaut und das Lied
»Bomben auf Engeland« gesungen.
Der stellvertretende Bannführer, ein Kriegsversehrter mit
einer Holzprothese, die ein Handschuh bedeckte, sprach
mich auf einem Flur des Heims an und teilte mir mit, der
Bannführer habe die Absicht, mich während des wöchent-
lichen Appells am
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