Ich war Hitlerjunge Salomon
was wir empfanden,
nämlich daß wir uns liebten.
Ich hätte Leni nur zu gerne mein Geheimnis enthül t, hütete
mich aber vor jeder Unachtsamkeit. Diese seelische Spannung
der verbotenen und deshalb nicht vollendeten Liebe machte
mich immer sensibler, empfindsamer. Ich suchte einen Ausweg
und schrieb Gedichte.
An einem trostlosen Abend, als ich mich allein in meinem
abgeschlossenen Zimmer aufhielt, verfaßte ich einige sehn-
süchtige, herzzerreißende Verse an meine Mutter. Ich hatte
nie eine poetische Begabung, aber mir genügten die einfach-
sten Worte, um meinen übermächtigen Schmerz darzustellen.
Ich war ein Junge, der sich nach seiner Mutter sehnte, die
zu verlassen er gezwungen worden war. Und das durfte ich
einer anderen Liebe gegenüber, Leni, nicht einmal erwähnen,
ja ich durfte nicht einmal darauf anspielen. Leni gehorchte
den Gesetzen und Zielen der Nazis. Ich fühlte mich zu ihr
hingezogen, und sie sich zu mir, und dabei wußte sie weder,
wer ich war, noch, in welch tragischer innerer Zerrissenheit
ich lebte. Als mein Gedicht fertig war, las ich es ihr, und
nur ihr, während eines romantischen Spaziergangs auf den
grünenden Wiesen außerhalb der Stadt vor. Selbstverständlich
sagte ich ihr nicht den wahren Grund der Trennung von
meiner Mutter. Wir setzten uns mit dem Rücken an eine
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dicht bewachsene Böschung. Vorsichtig zog ich mein Blatt
Papier aus der Tasche und begann:
Mutter …
… Auch jetzt seh’ ich Dich vor meinen Augen
So vol er Mutterliebe und Herzenstreue
Drum sei gegrüßt aus weiter Ferne
Damit Dir das Schicksal viel Glück ins weitere Leben streue
Mein Herz ruft ja so nach Dir,
Denn es hat Dich doch so gern,
Trotz der Ferne zwischen uns
Ist Dein Herz meines Herzens Kern!
Fühlst Du wie mein Herz so klopft, –
Und die Träne aus dem Auge tropft, –
Wie das Heimweh meine Seele frißt,
Nur weil Du bei mir nicht bist.
Hörst Du meine rufende Stimme –
Sie ruft nur – »Mutter, Mutter« –
Und läßt mir keine Ruh,
Merkst Du wie ich voll Sehnsucht zu Dir schwimme,
Denn mein einziger Traum bist nur noch Du.
Siehst Du wie ich des öfters weine,
Wie mein Herz aus Liebe nach Dir zergeht,
Furchtbar, daß gerade uns beide
Das Schicksal hat auseinandergeweht.
Und dieses möchte ich noch wissen,
Wann wir uns wiedersehn müssen,
Ob die Stunde des Glückes auch für uns mal wieder schlägt,
Und das Schicksal mich zu Dir hinüberträgt! …
Ich könnte tausende Kilometer gehen,
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Durch Wasser, Land, Berg und Tal,
Bei eisgem Frost und heißem Sonnenstrahl,
Nur um Dich für immer wiederzusehen!
»Ein sehr rührendes Gedicht«, sagte Leni. Sie schwieg eine
Weile und strich mir dann über das Haar. »Ich sehe, daß
sich auch ein Waisenkind nach der Mutter sehnt, obwohl es
sie nie gesehen oder gekannt hat«, fügte sie hinzu. »Liebste
Leni«, erwiderte ich, »der Mensch trägt seine Mutter stets in
sich. Hat sie ihm nicht das Leben, und sogar den Befehl zum
Leben gegeben?« Ich erinnerte mich an die Abschiedsworte
meiner Mutter …
Leni erfuhr also nicht den Grund meiner Gefühlsaufwal ung
und hörte aus meinem Munde nichts über das Schicksal mei-
ner Mutter. Anders ihre Mutter, eine sanfte, gutherzige Frau.
Als ich einmal meine Freundin besuchen wollte, öffnete
mir Lenis Mutter die Tür und teilte mir mit, daß ihre Toch-
ter nicht zu Hause sei. Ich wollte kehrtmachen und später
wiederkommen, sie aber lud mich ein, ins Haus zu treten, da
sie sich mit mir unterhalten wolle. Ich nahm an. Der Klang
ihrer Stimme und ihr Gesichtsausdruck ließen mich spüren,
daß dies keine harmlose Aufforderung war, sondern etwas
Ernstes dahintersteckte. Sie deutete auf einen antiken Sessel,
in dem ich fast versank. Sie setzte sich neben mich auf das
Kanapee. Ihre Lippen umspielte ein flüchtiges Lächeln. Ich er-
widerte es mit einem nervösen Lachen. Die Abenddämmerung
machte die im Zimmer herrschende ungewisse Atmosphäre
noch beklemmender. Wir schwiegen lange Minuten, dann
fragte sie unvermittelt: »Sag’ mal, Jupp, bist du wirklich ein
Deutscher?« Bisher hatte ich bei solchen Überraschungsfragen
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stets genug Phantasie aufgebracht, um angemessen zu lügen.
Doch wie geschah mir jetzt? Was war das? Ein rätselhaftes
Gefühl des Vertrauens? Das plötzliche Bedürfnis, ein kostbares
Geheimnis zu beichten, das mich verzehrte? Eine momentane
Geistesverwirrung? Vertrauen auf meinen guten Stern, der mich
auch
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