Ich war Hitlerjunge Salomon
kämpfende Hitlerjungen mit
der Tapferkeitsmedaille auszeichnete. Die junge Wikinger-
Generation konnte doch nicht zulassen, daß Fremde in ihr
geliebtes Vaterland eindrangen. Auf dem Weg zur Front hatten
wir starke Truppenbewegungen in der Gegenrichtung festge-
stellt. Da hörte ich zum ersten Mal die pikante Bemerkung
einiger »Waffenbrüder«: »Die da hauen ab und gehen nach
Hause. Für die ist der Krieg vorbei.«
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Aber warum kroch ich nicht aus meiner Schale heraus bei
dem neuen Wind, der wehte? Trübsinnig blieb ich hocken,
verwirrt und ohnmächtig. Ich weiß nicht, welche seelische
Verfassung mich damals gehindert hat, aufzustehen und das
Weite zu suchen. Die Front war ziemlich weit entfernt, aber
man hörte deutlich den Kampflärm. Meine Stunde der Wahr-
heit hatte geschlagen.
Trotz meiner Verblendung hatte ich nicht vor, auch nur
eine einzige Granate auf einen »feindlichen« Panzer zu werfen.
Ich hatte nicht vergessen, daß nicht sie meine Feinde waren.
Endlich wollte ich sie sehen, um ihnen zu bedeuten, daß
sie willkommen seien. Tief aus meinem Innern stieg die so
lange betäubte Hoffnung wieder auf, zwar leuchtete sie noch
schwach, war aber stark genug, um allmählich die Nebel der
letzten Jahre aufzulösen, dieselben Nebel, die mit unerschüt-
terlicher Zuverlässigkeit meine wahre Herkunft eingehül t und
geschützt hatten.
Mein Erwachen erfolgte nicht blitzartig. Die ständige An-
spannung des Kampfes um mein Leben, unter der ich seit
Jahren stand, ließ nicht auf einen Schlag nach, sie dauerte an,
verminderte sich indes nach und nach. Ich konnte die Haut
des Feindes, in der ich überlebt hatte und die meine eigene
geworden war, nicht so ohne weiteres wieder abstreifen.
Der 21. April 1945 war der erste Tag meines zwanzigsten
Lebensjahres. Einer der mit mir in Stellung liegenden Kame-
raden gratulierte mir zum Geburtstag.
Sechs Jahre waren seit meinem Aufbruch in dieses aber-
witzige Leben vergangen, in vieren davon war ich meines Ichs
beraubt und ein anderer geworden.
Am Tag zuvor hatte der Führer Geburtstag. Wir hörten
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Joseph Goebbels’ alljährlich wiederkehrende Ansprache an
das deutsche Volk, in der, wie immer an diesem Tag, Hitler
und ganz Deutschland gefeiert wurden. Ich erinnere mich gut
seiner letzten Sätze. Mit deutlich veränderter Stimme hatte
Goebbels erklärt: »Wenn wir Deutschen den Krieg verlieren
sollten, ist die Göttin der Gerechtigkeit eine Hure des Geldes,
und dann sind wir Deutschen nicht mehr würdig, auf dieser
Welt weiterzuleben.«
In derselben Nacht, zwischen dem Geburtstag des geschla-
genen Führers undmeinem zwanzigsten Geburtstag, ereigneten
sich große Dinge. Das Kriegsende kündigte sich an!
Der Vorhang fiel. Ich hatte die Rol e, die mich das Schicksal
auf der Bühne meines Lebens erfolgreich zu spielen gezwungen
hatte, ausgespielt! Ein anderer Vorhang wurde hochgezogen:
Die Selbstverleugnung und Isolation des jungen Juden Salo-
mon, Sohn des Israel, war zu Ende.
Ich erhielt das schönste Geburtstagsgeschenk, das ich mir
und das sich wohl die ganze Welt vorstellen konnte!
In dieser entscheidenden Nacht wurde mein leichter Schlaf
durch gebrüllte Befehle in einer fremden Sprache und von
schmerzhaften Schlägen mit einem Gewehrkolben unterbrochen.
Meine schweren Lider konnten nur mit Mühe der gewalttä-
tigen Aufforderung nachkommen. Ich wurde nicht gewahr,
daß dies ein Erwachen nach einer ewigen Nacht war, in der
meine Seele in der Verbannung gelebt hatte, und daß sich
meine Augen nun dem Licht der Wahrheit und der Freiheit
öffnen würden.
Die amerikanische Armee nahm unser Lager im Sturm
ein, ohne auf den geringsten Widerstand zu treffen. Dann
erschien plötzlich eine kleine Einheit und befahl uns, uns an
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der Wand aufzustellen. Die Männer beschlagnahmten alle
Waffen und die gesamte Ausrüstung, die wir noch besaßen,
und schichteten sie im Freien zu einem großen Haufen auf.
Ich sah, wie mein Fotoapparat aus meinem Beutel gerissen
wurde und in den Besitz eines amerikanischen Soldaten
überging. Ich wagte nicht zu protestieren oder eine andere
Reaktion zu zeigen.
»Nazis an die Wand!« brüllten sie, bis auch noch der
letzte von uns mit über dem Kopf gekreuzten Armen in
der Reihe stand. Ich stellte mich mit den anderen mit dem
Rücken an die Wand und sah einer neuen, unbekannten
Realität entgegen. Es war wie eine Sinnestäuschung. Neben
mir hörte ich es flüstern,
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