Ich war Hitlerjunge Salomon
in der Nachbarstadt Hannover, die häufig bombardiert
wurde, an solchen Hilfsaktionen teilgenommen hatten. Ich
zögerte nicht, mit meinen Kameraden hinauszugehen und
meine Pflicht zu erfüllen. Zumeist machten wir Kaffee und
belegte Brote und verteilen beides an den Straßenecken.
Ich bot aber auch all meine Kräfte und meinen ganzen
Mut auf, wenn es sich darum handelte, ein Menschleben zu
retten. Dies entsprach den Grundsätzen, nach denen mich
meine Eltern erzogen hatten. Für mich war ein Mensch ein
Mensch, gleichgültig, welchen Geschlechts, Alters oder welcher
Herkunft er war. Insofern geriet ich nicht in Gewissenskon-
flikte. Jeder unter den Trümmern seines Hauses begrabene
Verletzte hatte ein Recht auf meine Hilfe. Ich dachte weder
an sein vorheriges Verhalten, noch daran, was er mir zugefügt
hätte, wenn er erfahren hätte, wer ich war. Im übrigen muß
ich sagen, daß ich in diesen Momenten ganz Jupp war. Meine
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äußere Erscheinung hatte die Herrschaft übernommen, ließ
mich umherhasten und bei den Rettungsarbeiten mit anpacken,
so wie es alle in meiner Umgebung taten.
In den drei Jahren, die ich in der nationalsozialistischen
Schule verbrachte, war ich unablässig bestrebt, in allen Fä-
chern zu den besten Schülern zu gehören, und es gelang mir
mühelos. Eine ungeheure Kraft trieb mich an. Ich ging ganz
im Lernen auf. Andererseits wußte ich mich allem fern zu
halten, was mich hätte deprimieren oder in emotionaler Hin-
sicht erschüttern können. So muß ich also zugeben, daß ich
bisweilen meine Vergangenheit vergaß.
Mein Leben ähnelte einer Uhr, deren Pendel an zwei Ex-
treme schlug; auf der einen Seite befand sich das vorläufige,
falsche und auferzwungene Leben, auf der anderen das echte,
tief verwurzelte, doch verborgene.
Mein Pendel schlug unregelmäßig. Meist blieb es an Jupps
Welt hängen. Dann schlug es für eine bestimmte Zeit zum
anderen Ende aus. Kam es von Salomon zurück, unterzog
es sich zuerst einer Gehirnwäsche, bevor es wieder zu Jupp
zurückschwang.
Ich hatte manchmal Mühe zu erkennen, in welcher Persön-
lichkeit ich mich gerade aufhielt. Mein Doppelleben brachte
mich selber durcheinander, und oft hätte ich nicht zu sagen
vermocht, welche Rol e ich lieber spielte. So war auch ich über
die Siege »unseres Vaterlandes, unseres großen Deutschlands«
hellauf begeistert. Ich hielt mich sogar meinen Kameraden
gegenüber mit Freudenbezeugungen nicht zurück, wenn be-
eindruckende Heldentaten bekanntgegeben wurden. Sieges-
meldungen nahm man begierig auf. Handelte es sich um
einen großen Erfolg, brach Jubel aus, und al e umarmten sich.
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Auch mich ließ dieses überströmende Glück nicht kalt. Ich
strahlte mit ihnen über jeden Schritt, der uns dem »Endsieg«
näherbrachte. Ich verschwendete keinen Gedanken an mein
Hauptziel oder an meine Zukunft nach der »Endniederlage«
und geriet nicht in innere Konflikte. Es war keine wil entliche
oder aufgezwungene Resignation, es war ein verhältnismäßig
sicheres Mittel zu überleben oder über das nazistische Mör-
derregime zu triumphieren.
Oft wurde Luftgefahr 15 gemeldet, was hieß, daß feind-
liche Flugzeuge fünfzehn Flugminuten von Braunschweig
entfernt waren. Laut Vorschrift mußten wir sofort unsere
Beschäftigung abbrechen und in die Luftschutzkeller ei-
len. Wir gewöhnten uns schließlich an den Luftalarm, und
mehrmals wurden wir überflogen, ohne bombardiert zu
werden. Die Wachsamkeit ließ also nach. Gleichgültigkeit
und Nachlässigkeit machten sich breit. Es gab »Mutige«, die
beschlossen hatten, die Gefahr einfach zu ignorieren und in
ihren Wohnungen zu bleiben. Doch was geschehen mußte,
geschah. An einem schönen sonnigen Morgen kündigte der
Rundfunk einmal mehr Luftgefahr 15 an, und diesmal ex-
plodierten die Bomben und trafen unsere Wohnanlage. Alles
rannte wie von Sinnen zu den Luftschutzkellern. Während
dieser überstürzten Flucht kam einer meiner besten Freunde,
Björn Folvik, der zu der jungen Garde der norwegischen
Quislinge gehörte, ums Leben. Ich hatte gerade noch Zeit
gehabt, mich in Sicherheit zu bringen, und war über den
Tod meines Kameraden tief betrübt. Ich nahm ein Blatt
Papier und verfaßte spontan ein Gedicht zu Ehren meines
toten Freundes, das so anfing:
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Nun liegt er tot auf dem Rasen
mit dem Gesicht nach oben
als wol t er sagen:
Für’s heilige Vaterland
vorwärts Kameraden!
Ich verhielt mich und
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