Ich war Hitlerjunge Salomon
sprach wie die anderen, ich war mit Leib
und Seele Mitglied dieser Gruppe, sowohl in der Erscheinung
als auch innerlich.
Heute sehe ich klar. Mein damaliges Verhalten spottete jeder
Logik, und es fällt schwer, es zu begreifen und zu beurteilen.
Dennoch war es so.
Eines Tages prallten die beiden Identitäten aufeinander
und brachten mich aus dem Gleichgewicht. Es passierte im
Rassenkundeunterricht. Der Lehrer rief mich auf und bat mich,
die Notwendigkeit der Vernichtung der jüdischen Rasse zu
erklären. Verdutzt und fassungslos ging ich zum Podest, um
zu antworten. Wut und Ekel tobten in mir, zugleich sammelte
ich all meine Überlebenskräfte. Nur der Satan konnte eine
derartige Frage stellen und von einem solch besonderen Schü-
ler wie mir die Antwort erwarten. Als Bester unter meinen
Kameraden zu gelten, verlangte mir viel ab. Doch in diesem
präzisen Fal mußte ich meinem verwirrten Geist neue Kräfte
abringen, deren Existenz mir bis dahin unbekannt war. Plötz-
lich stieß meine Vergangenheit mit der Gegenwart zusammen
und deckte das trostlose Paradox in seiner ganzen Schärfe auf.
Gerade ich sollte mich zu diesem Verbrechen äußern! Ich war
in einer entsetzlichen Verlegenheit, wußte aber, daß ich mich
für die Zeit der Antwort beherrschen mußte. Ich hatte wohl
einen unendlichen Selbsterhaltungstrieb. Unter innerlichen
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Qualen erklärte ich dem rassistischen Lehrer, was ich wußte.
Kein äußeres Zeichen deutete auf den Sturm, der in mir heulte.
Ich hatte den Eindruck, daß ihn mein Wissen befriedigte, und
wahrscheinlich erhielt ich eine ausgezeichnete Note.
Trotz der sich von Tag zu Tag verschlechternden Lage an der
Front war die Stimmung in der Bevölkerung gut. Sie wurde
sogar noch besser dank der ermutigenden Gerüchte, die die
Deutschen in ihren Hoffnungen bestärkten. Man munkelte,
daß eine Geheimwaffe am Ende den Krieg für die Deutschen
entscheiden würde. Man tuschelte, daß es fünf Minuten vor
zwölf sei, daß der Führer bald den Daumen heben würde, um
das Signal zum Abwurf einer Waffe auf die Schlachtfelder zu
geben, deren Zerstörungskraft in der Militärgeschichte ein-
malig sei. Nach dem Krieg erfuhr ich, daß Nazi-Deutschland
fieberhaft an der Atombombe gearbeitet hatte und kurz vor
deren Herstellung stand.
In der HJ-Schule herrschte eine eigenartige Gleichgültigkeit,
trotz der veränderten Frontlage. Am 6. Juli 1944 entstand
mit der Landung der Alliierten in der Normandie eine zweite
Front. Gleichzeitig erzielte der große russische Durchbruch
entscheidende Siege. Die Sowjetarmee befreite die von den
Nazis eroberten Gebiete, marschierte über die polnische Grenze
und fügte der Wehrmacht schwere Verluste zu.
Der Krieg war faktisch entschieden. Währenddessen pfleg-
ten wir in der Schule unsere Großmachtsträume. Auch mich
machte die veränderte Lage nicht wankend. Ich war tief in
diese mir aufgezwungene Welt verstrickt, und die Dinge hatten
meinen Verstand endgültig betäubt. Mein Bewußtsein war
so umnebelt, daß kein Lichtstrahl der Realität eindrang. Ich
fühlte mich weiterhin wie »einer von ihnen«. Unerbittlich hieß
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ich die abenteuerlichen und gefährlichen Maßnahmen der
letzten deutschen Anstrengungen gut. Ich sorgte mich nicht
mehr um mein Schicksal nach der Niederlage der Wehrmacht.
Als das Reich schon in Todeszuckungen lag, nahm ich, wie
gewöhnlich, an den verzweifelten Rettungsversuchen teil. Wir
schlossen uns dem Volkssturm an, der »spontanen« Truppe
aus Kindern, Hitlerjungen, Frauen, Greisen … aus all jenen,
die noch eine Waffe halten konnten, um die Grenzen des
Vaterlandes gegen den anrückenden Feind zu verteidigen.
Anfang 1945 wurden wir in den Wäldern um Braunschweig
an einer neuen Panzerabwehrwaffe, der Panzerfaust ausgebil-
det. Endlich bekamen wir eine Waffe in die Hand. Meine
Kameraden hielten sich schon für alte Kämpfer … Die Waffe
war einfach und wirksam, aber ihre Handhabung gefährlich.
Drückte man auf den Abzug und feuerte die Panzerfaust ab,
schoß hinten eine lange Flamme heraus. Mehrere Kameraden
erlitten dabei schwere Verbrennungen.
Man stel te eine Kompanie zusammen und schickte uns an
die Westfront. Meine Erfahrung brachte mir die Ernennung
zum Zugführer ein. Wir hatten Straßenbrücken zu überwachen
und sollten die Wehrmacht bei der Zerstörung feindlicher
Panzer unterstützen. Die Zeitungen veröffentlichten Fotos,
auf denen Hitler im Volkssturm
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