Ich war Hitlerjunge Salomon
mir,
doch der Beamte las in aller Ruhe in seinen Unterlagen und
sprach kein Wort. Plötzlich hob er den Kopf und fragte: »Aus
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welcher Gegend stammt der Name Perjell?« – »Aus Litauen,
aus dem Osten, Baltikum«, antwortete ich ohne zu zögern.
Ich erinnerte mich an den Namensexperten, den ich an der
Front in Minsk getroffen hatte. – »Stimmt, stimmt. Du hast
wahrscheinlich recht!« sagte er überzeugt. »Also wo ist deine
deutsche Abstammungsurkunde? Sie fehlt. Wir brauchen sie
zur Vervollständigung unserer Akte.«
Stolz holte ich die unschätzbare Verlustbescheinigung über
meine Ausweispapiere hervor und hielt sie ihm hin. Er nickte.
»Ja gut, diese Bescheinigung verdient allen Respekt. Aber zur
offiziellen Vervollständigung deiner Akte brauchen wir etwas
Amtliches. Du mußt dich unverzüglich an deine Heimat-
stadt Grodno wenden und eine Abschrift deiner deutschen
Abstammungsurkunde anfordern! Andernfalls müßten wir
zu den üblichen Maßnahmen greifen …«, sagte er lakonisch
und lächelte kalt. »Jawohl, ich werde noch heute einen Brief
nach Grodno schreiben, wie Sie wünschen!« antwortete ich
und überlegte hastig, welche andere Lösung sich anböte.
Während die Front bereits zusammenbrach und die Alli-
ierten in Frankreich ihr siegreiches Befreiungswerk fortsetz-
ten, brachten es diese Deutschen noch fertig, sich um die
Einsickerung artfremder Elemente in ihr Elitevolk Sorgen zu
machen! Wir tauschten noch ein paar Höflichkeitsfloskeln aus
und verabschiedeten uns mit dem üblichen Hitlergruß. Ich
sprang die Stufen hinab. Ich brauchte dringend frische Luft.
Ich atmete tief durch und fühlte mich besser. Dann blieb ich
ratlos stehen. Selbstverständlich würde ich nicht nach Grodno
schreiben, einfach weil dort kein Volksdeutscher namens Josef
Perjell geboren worden war.
Ich wunderte mich darüber, daß der Beamte nicht auf die
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Idee gekommen war, selbst dorthin zu schreiben und dies
mir überlassen hatte. Daß ich einen Monat Zeit hatte und
mittlerweile irgendeine andere Lösung finden könnte, tröstete
mich. Ich hatte das Gefühl, frei zu sein, doch frei wie ein
zum Tode Verurteilter in einer Zelle ohne Gitterstäbe und
Türschloß.
In der HJ-Schule ließ ich mir meine düstere und sorgen-
volle Stimmung nicht anmerken. Ich beschloß, am nächsten
Sonntag der Familie Latsch einen Besuch abzustatten, um
mit Lenis Mutter über die drohenden Wolken zu sprechen,
die sich über mir zusammenzogen, und mir Rat zu holen.
Doch dazu kam es nicht mehr. Mein Schutzengel griff von
neuem ein. In der Nacht nach meinem Behördengang wurde
Braunschweig zum ersten Mal bombardiert. Bis dahin hatten
uns die alliierten Flugzeuge überflogen, ohne eine einzige
Bombe abzuwerfen. Die Luftangriffe galten Berlin. Daher war
der örtliche Luftschutz nicht besonders wachsam. Außerdem
bestärkte ein übrigens plausibles Gerücht die Bewohner in dem
Glauben, die Stadt werde verschont. Man erzählte, daß das
Haus Braunschweig mit der britischen Königsfamilie verwandt
sei und diese daher die Stadt ausgespart sehen wollte, um sie
unversehrt in Besitz nehmen zu können. Dieses Gerücht hielt
sich hartnäckig bis zu der Nacht, als Dutzende von Leucht-
raketen, sogenannte Weihnachtsbäume, den Himmel taghell
il uminierten und ein Bombenregen die Stadt in einen Schutt-
haufen verwandelte. Braunschweig brannte. Die Explosionen
hatten uns überrascht und lösten eine allgemeine Panik aus,
die größer war als diejenige in Grodno. Welch wankelmüti-
ges Schicksal! Wieder einmal war ich heftigen Luftangriffen
ausgesetzt, doch diesmal gereichten mir die Bomben zum
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Vorteil. Schreckensschreie und sich widersprechende Befehle
ertönten und gingen im Bombenlärm der fliegenden Festun-
gen B17 unter.
Eine Ruine war nun auch das Gebäude mit der »Abteilung
Deutsche Staatsangehörigkeit«, in der meine Akte der Bestäti-
gung aus Grodno harrte. Das Haus wurde restlos zerstört, und
es wäre vergebliche Mühe gewesen, nach eventuel en Überbleib-
seln der Akte zu suchen. Alles war in Flammen aufgegangen.
Ich sandte dem Himmel ein Dankgebet für den anonymen
Piloten, der so trefflich gezielt hatte, bevor er seine Bombe
abwarf. Ich sagte mir: »Siehst du, Schloimele, jetzt werden sie
dir keinen Ärger mehr mit ihren Nachforschungen über deine
Abstammung machen!« Nach der Entwarnung rief man uns
zu den Trümmerkommandos. Wir hatten bereits Übung, da
wir
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