Ich war Hitlerjunge Salomon
Vorstellung von der wirklichen Gefahr. Auch
was die Zukunft für uns bereithielt, konnte ich mir nicht
ausmalen. Es war mir gelungen, eine Zeitlang der Hölle des
Dritten Reiches zu entfliehen. Ich war aus Peine, aus Lodz,
aus Grodno herausgekommen. Meine jetzige dritte Flucht
von Grodno nach Minsk schien sich dem Ende zuzuneigen.
In Wahrheit hatte sie gerade erst begonnen.
Einen Tag nach meiner Ankunft in dem kleinen Dorf
traf ich frühmorgens auf hohe sowjetische Offiziere, die sich
über ausgebreitete Landkarten beugten. Die Rangniederen
sammelten die versprengten Soldaten ein. Sie versuchten, eine
geordnete Einheit zusammenzubringen, mit der sie die deutsche
Einkesselung durchbrechen und zu den regulären Verbänden
stoßen wol ten. Ob es ihnen gelungen ist, habe ich nie erfahren.
Ich hatte vor, zum nächsten Brunnen zu gehen und einen
Topf mit Wasser zu füllen, um mir die letzten Nudeln und
die letzten Zuckerstücke zusammenzukochen. Ich hatte sie
aus einer russischen Feldkantine mitgenommen, die bei dem
überstürzten Rückzug liegengeblieben war.
Unterdessen kamen die Granateinschläge immer näher.
Tiefflieger feuerten Salven ab, und die verirrten Kugeln pfiffen
durch die Luft. Mutter Erde bot den einzigen Schutzschild;
hinter einem Hügel, einem Steinbrocken, einer Anhöhe oder
in einem Straßengraben konnte ich mich in Sicherheit bringen.
Plötzlich waren sie da.
Nachdem sich die Staubwolken verzogen hatten, erkannte
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ich sie deutlich. Ihre Gesichter waren rußgeschwärzt und staub-
verkrustet. Große Fahrerbrillen bedeckten Stirn und Augen.
Die furchteinflößenden Stahlhelme, die grünspanfarbenen
Uniformen und die schwarzen Stiefel verliehen ihnen das
Aussehen von Ungeheuern.
Auf ihre Krad-Beiwagen hatten sie schußbereite Maschi-
nengewehre montiert.
Wir saßen in der Falle. Flucht war nicht möglich.
Plötzlich tauchte am Himmel ein Tiefflieger auf und warf
Flugblätter ab. Auf russisch und deutsch wurde uns befohlen,
die Waffen niederzulegen und den Anweisungen des Patrouil-
lenfahrzeugs Folge zu leisten, das auf einmal vor uns stand.
Befehle wurden gebrüllt. Dawai! Dawai! – »Los! Los!« Wir
mußten auf ein leeres Feld gehen und lange Reihen bilden.
Wir sollten sortiert werden. Ich stellte mich in die längste
Reihe, in der Offiziere, einfache Soldaten und Zivilpersonen
standen. Ich war das einzige Kind. Trotz meiner sechzehn
Jahre sah ich wie ein kleiner Junge aus.
Stunden wartete ich jetzt schon so, und die Schlange rückte
langsam zu den deutschen Wachposten vor. Die Gerüchte
jagten sich. Man flüsterte einander zu, daß die Wehrmacht
Juden und Politkommissare der Roten Armee nicht, wie
nach dem Kriegsrecht üblich, in Gefangenenlager brächte,
sondern sie in den nächstgelegenen Wald trieb und dort
erschießen würde.
Die Schlangen wurden von den Soldaten des deutschen
Kommandos scharf überwacht. Jeder unachtsame Schritt über
die Linie zog Beschimpfungen, Drohungen und Gewehrsalven
nach sich. Ich sah, wie russische Offiziere in meiner Nähe
ihre Abzeichen von den Uniformen entfernten; andere lösten
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verstohlen den fünfzackigen Stern, das Zeichen des Politruk ,
vom Ärmel ab.
Ich begriff, daß jeder Schritt nach vorn ein Schritt dem
Ende zu war. Denken konnte ich nicht mehr, Angst und Ent-
setzen lähmten mich, die Zunge lag mir wie ein Bleiklumpen
im Mund. Ich konnte gerade noch murmeln: »Mama, Papa,
Gott, wo seid ihr? Ich will noch nicht sterben.«
Fast schlafwandlerisch, ohne es wirklich überlegt oder ge-
nau bedacht zu haben, gelang es mir mit dem Mut der Ver-
zweiflung, mich aller meiner Papiere zu entledigen, die meine
jüdische Herkunft oder meine Zugehörigkeit zum Komsomol
bezeugten. Mit dem Schuhabsatz grub ich ein kleines Loch in
die weiche Erde und stampfte die verräterischen Dokumente
hinein. Und das vor der Nase der Wachposten! Ich hatte weder
an die Folgen noch an die Reaktion dieser Ordnungs- und
Perfektionsfanatiker gedacht, wenn sich ein Junge ohne Aus-
weispapiere präsentierte. Doch etwas wie eine innere Stimme,
eine Intuition der Zuversicht, ein Funke Hoffnung, flüsterte
mir zu: »Das ist nicht möglich, es wird dir nichts geschehen …«
Ein ähnlicher Hoffnungsschimmer muß auch noch im
Herzen der zum Tode Verurteilten glimmen, wenn die Hen-
ker sie aus den Zellen holen, um sie auf ihren letzten Weg
zu bringen.
Seit Kriegsende und noch heute sehe ich mich in meinen
Träumen am
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