Ich war Hitlerjunge Salomon
Rand einer frisch ausgehobenen Grube stehen.
Mir gegenüber wird exekutiert … die Kugeln pfeifen … sie
treffen oder treffen nicht … ich falle … falle … und wache
in meinem Bett auf. Ich bin schweißgebadet, starr vor Schreck,
ich ringe nach Luft, aber ich lebe, bin wohlauf. Es ist jedes
Mal, als würde mir das Leben von neuem geschenkt.
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Die Reihe rückte auf. Bald lag nur noch eine winzige Strek-
ke zwischen den Soldaten und uns. Vor mir stand noch eine
Handvol Männer. Ich konnte bereits deutlich die Gesichtszüge
derjenigen erkennen, die darüber entschieden, wer leben durfte
und wer nicht. Ich hörte ihre bellenden Befehle. Schickte sich
meine Lebensuhr an, die letzte Stunde zu schlagen?
In diesem Augenblick hätte ich fliehen, vom Erdboden ver-
schwinden, mich in etwas anderes, in irgendein Tier verwandeln
oder unsichtbar werden mögen. Ich wäre so gerne erwacht
und hätte an der Brust meiner Mutter wieder Atem geschöpft.
Doch nichts dergleichen geschah. Ich stand wie festgenagelt. Die
Angst hatte einen unbeschreibbaren Höhepunkt erreicht. Sie
drang in jede Faser meines Körpers und drohte, ihn in tausend
Stücke zu sprengen. Unter dieser unerträglichen Anspannung
verlor ich einige Tropfen Sperma. Ich spürte ein Nachlassen der
Spannung und eine eigenartige Erleichterung. Meine Unterhose
wurde feucht, trocknete aber rasch wieder und wurde hart.
Ich schloß kurz die Augen, wie losgelöst zwischen Himmel
und Erde schwebend. Als ich sie wieder aufschlug, erblickte
ich das Koppel eines links von mir stehenden Soldaten, auf
dem »Gott mit uns« eingraviert war. Was hatten diese Worte
zu bedeuten?
War dies derselbe Gott, der uns Juden als die Kinder des
auserwählten Volkes bezeichnet hatte? Oder hatten sie einen
anderen Gott, den man mit Menschenopfern besänftigen
mußte? Der Mann mit dem Koppel schrie mich an: »Hände
hoch!« Ich war an die Reihe gekommen. Ein paar Sekunden
lang, vielleicht die letzten meines Lebens, dachte ich an Vater
und Mutter, an das Gute und Schöne auf Erden, an meinen
unbändigen Lebenswillen.
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Ich bebte am ganzen Körper. Ich hob meine zitternden
Arme, und der stahlhelmbewehrte Wachposten näherte sich
mir, um mich systematisch zu durchsuchen. Ich sah mich
schon sterben, blieb aber stocksteif stehen und brach nicht
in Schluchzen aus.
Ich wartete. Er hob die Hand, und in dem Augenblick, da
sie meinen Körper berührte, überflutete mich der Lebenswil e
wie ein Orkan. Etwas Phantastisches war in mir vorgegangen,
eine Art Befreiungsengel wachte plötzlich über mich. Die läh-
mende Angst verflog. Auch meine bleischwere Zunge löste sich.
Zuversicht und Mut überkamen mich, und ich sagte leichthin
zu dem Mann, der gleich über mein Schicksal entscheiden
würde: »Ich habe keine Waffen!« und lächelte ihn breit an.
Er beugte sich nieder und tastete rasch meine Hose ab.
Er schielte von unten hoch und fragte mich lauernd und
drohend: »Bist du Jude?«
Ohne zu zögern, antwortete ich mit normaler, fester Stimme:
»Ich bin kein Jude, ich bin Volksdeutscher.«
Mein Leben hing an einem seidenen Faden. Ich befand
mich in den Händen eines Militärs, der vom Wahnsinn des
Krieges und der Mordlust vergiftet war. In seinen Augen war
ein Menschenleben keine Revolverkugel wert. Sein Wille und
sein Urteil bestimmten mein Schicksal. Würde er mir glauben?
Doch die Gefahr verschärfte sich, und die Lage wurde
nahezu aussichtslos: Ein hinter mir stehender junger Pole
sprang plötzlich vor und sagte, mit dem Finger auf mich
zeigend, zu dem deutschen Wachposten: »Der … Jude!« Ich
verneinte verzweifelt, halb tot vor Angst. Da ereignete sich
das Erstaunliche und Unglaubliche, das ich heute noch nicht
begreife. Der Nazi-Soldat glaubte mir, ausgerechnet mir! Der
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verwirrte Denunziant bekam eine schallende Ohrfeige für
seine Unverschämtheit und den Befehl, »seine Schnauze zu
halten«. Wörtlich!
Mein Blick blieb von neuem am Koppel des Soldaten hängen.
Zum zweiten Mal las ich: »Gott mit uns«. Was war in diesem
alles entscheidenden Augenblick im Herzen dieses Mannes
vorgegangen? Hatte ihm ein göttlicher Funke, während er
vor mir stand, etwa zugeflüstert: »Dieser Junge muß leben!«?
Wenn es so war, warum dann ausgerechnet ich? Würde ich es
je erfahren oder begreifen? Bevor die Reihe an mir war, hatten
schon viele Juden die Kontrolle durchlaufen. Auch sie wollten
ihre Herkunft verbergen. Da sie des
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