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Ich war nur kurz bei Paul

Ich war nur kurz bei Paul

Titel: Ich war nur kurz bei Paul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herfried Loose
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improvisierte Hütte stand neben der Küchenzeile und war mit alten Kissen ausgelegt.
       Karlchen hatte an Ralf einen Narren gefressen. Wenn dieser zu Besuch kam, sprang er aus seiner Hütte, sein kleiner Propellerschwanz rotierte dann wie wild und er hopste, vergnügt und aufgeregt hechelnd, an Ralfs Hosenbeinen empor. So lange, bis dieser ihn schließlich auf den Arm nahm - dann war Ruhe! Nur wenige Minuten später wollte er dann wieder hinuntergelassen werden. Danach verschwand er in seinem Karton und das Begrüßungsritual war damit beendet. Er kam dann auch nicht wieder hervor, wenn Ralf das Atelier verließ.
       Ralf ging gerne zu Paul, wieso wusste er eigentlich nicht genau zu sagen. Wahrscheinlich, weil dieser immer freundlich und verständnisvoll zuhörte und weil er immer nützliche Tipps für ihn parat hatte. Erstaunlicherweise kannte sich Paul auch auf Gebieten gut aus, die ihm Ralf nicht zugetraut hätte. Paul wusste zum Beispiel selbst mit Computern einigermaßen Bescheid, obwohl er bei Paul keinen entdecken konnte. Zeitungen lagen ebenfalls nicht herum, dennoch schien Paul alles zu wissen, was in der Welt und in der Politik vorging.
       Wenn Ralf ihn besuchte, war es meistens später Nachmittag, sie nannten es ihre Teestunde . Paul schien ein Mann zu sein, der zum einen regen Anteil am Leben seiner Mitmenschen nahm, zum anderen aber auch ein stiller und vergnügter Beobachter von allem war. Er hatte wohl, das entnahm Ralf einigen seiner Äußerungen, einen kleinen Kreis von Freunden aus dem Künstler-Milieu, mit denen er sich zu langen Diskussionsrunden bei Wein und frischem Brot traf. Paul backte häufig selbst Brot, welches herrlich schmeckte.
      Ralfs Mutter wusste, dass er einen Freund hatte, der Paul hieß. Sie hatte sich gewundert, dass ein solch alter Name heute anscheinend wieder modern wurde. Ralf hatte ihr jedoch verschwiegen, dass Paul schon über siebzig Jahre alt war. Sie nahm natürlich an, dass es sich bei ihm um einen Schulfreund handelte und Ralf hatte ihren Irrtum nicht korrigiert.
       Wenn Ralf nach Hause kam und seine Mutter ihn fragte, woher er komme, antwortete er stets: Ich war nur kurz bei Paul! Warum er seiner Mutter nicht von dem alten Mann erzählte, hätte Ralf nicht genau beantworten können. War es ihm unangenehm, vielleicht sogar peinlich, einen so alten Freund zu haben? Wahrscheinlich, ja! Ralf wollte seinen Paul auch nicht mit anderen teilen und so verschwieg er auch den Freunden gegenüber seine regelmäßigen Treffen mit ihm.
     
    ***
     
    Derzeit machte Ralf sich Sorgen um seine Mutter. Seit dem öden Weihnachtsfest kränkelte sie, hatte Schnupfen, Heiserkeit und einen unüberhörbaren Reizhusten. Ihre Augen waren gerötet und schienen geschwollen. Er hatte sie lange nicht mehr lachen gehört.
       Sie ging natürlich zur Arbeit, ließ sich nicht krankschreiben, weil sie fürchtete, das könne ihr besonders in der noch bis Ende Februar währenden Probezeit negativ angelastet werden. Seit dem Auftreten der Krankheitssymptome verlor seine Mutter nicht nur an Gewicht, sondern wurde zunehmend auch reizbarer und unausgeglichener. Nichts konnte ihr Ralf mehr recht machen, und so versuchte er, wo es ging, ihr aus dem Weg zu gehen.
       Als er wenige Tage vor Ausgabe des Halbjahres-Zeugnisses von der Schule heimkam, fand er seine Mutter zuhause im Bett liegend vor. Ihr Chef, Dr. Brunner, hatte sie zum Auskurieren heimgeschickt und ihr einige Tage strikte Bettruhe auferlegt. Sie war darüber todunglücklich, da sie befürchtete, dass sie nach der Probezeit nicht übernommen würde.
       Ralf war erschrocken, denn er hatte es noch nie erlebt, dass seine Mutter krank im Bett lag. Sie lag in den Kissen wie ein Häufchen Elend. Ralf kam erst jetzt zu Bewusstsein, dass er sich in den vergangenen Wochen zuwenig um sie gekümmert hatte, etwas schien sie neben ihrer Krankheit zusätzlich zu bedrücken.
       Wo waren ihre Kraft und Zuversicht geblieben? Immer war sie die Optimistische, die Aktive, die Unerschütterliche gewesen - und jetzt? Zum ersten Mal in seinem Leben machte sich Ralf bewusst Sorgen um sie. Sie war doch die Einzige, die ihm nach der Trennung noch geblieben war!
       Während dieser Tage begann er, seine Mutter mit anderen Augen, erwachseneren Augen, zu sehen. Er stand morgens früher auf, um ihr das Frühstück zu bereiten, achtete darauf, dass sie ihre Medikamente einnahm und fragte regelmäßig ihre Temperatur ab. Sie war leicht erhöht, nicht

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