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Ich war nur kurz bei Paul

Ich war nur kurz bei Paul

Titel: Ich war nur kurz bei Paul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herfried Loose
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Tisch, einer Werkbank ähnlich, auf der allerlei Farben, Pinsel, Tuben und Tiegel herumlagen. Direkt daran angrenzend befand sich ein rohes Holzregal mit vielen kleinen Fächern, aus denen Rollen von Papieren und Leinwänden herausragten. Paul nannte es sein Papierlager . Der Fußboden in dieser Ecke war vor lauter Farbklecksen und Kartons kaum zu erkennen, es musste mal ein blauer Linoleumbelag gewesen sein.
       In der anderen Ecke befand sich der Küchenbereich mit großer Ecksitzbank, einem klobigen Tisch mit wuchtiger Platte und einigen Polsterstühlen mit herausnehmbaren Polsterkissen, wie aus einem Museum.
       Gegenüber standen ein Bett, ein Stuhl und ein Kleiderschrank. Diese Schlafecke ließ sich hinter einem blauen Vorhang, der an einer Deckenschiene befestigt war, verstecken. Sofa, Wohnzimmerschrank und Fernseher fehlten ganz. Nur ein lederner Ohrensessel mit Fußhocker stand in der Mitte des Raumes. An der Decke hingen nackte Glühbirnen. Einen Geschirrspüler gab es genauso wenig wie eine Kaffeemaschine.
       Außer dem großen Raum, den Paul Atelier nannte, gab es noch den winzigen Flur, von dem das Badezimmer abzweigte. Auf der anderen Seite, gegenüber dem Bad, ging ein kleiner Abstellraum mit schrägen Wänden ab. Der war sehr lang und schmal und wurde von einem Regal, in dem allerlei Dinge verstaut waren, beherrscht. Wenn man von dort etwas holen wollte, musste man sich der Schräge der Dachneigung anpassen und sich dementsprechend tief bücken.
       Als Ralf das erste Mal im November dort zu Besuch war, staunte er. Auf den ersten Blick wirkte alles sehr unaufgeräumt, bei näherem Hinsehen stellte er dann jedoch fest, dass es für die Malerei schon gut durchorganisiert war. An jeder freien Wandfläche hingen Bilder. Die, die dort keinen Platz fanden, standen in überdimensionierten Zeitungsständern, in denen man sie zum Betrachten einfach umklappen konnte. Man musste den Kopf schief legen, um sie ansehen zu können.
       Paul schien eine Vorliebe für große Bilder zu haben. Sie waren überwiegend in gedeckten Farben gemalt und gehorchten strengen und komplizierten Mustern, einige glichen in ihrer strengen Geometrie Tapeten- oder Geschenkpapiermustern, andere zeigten Fragmente von menschlichen Gesichtern, teilweise nur ein Auge, manchmal beide, mit Ansätzen der umgebenden Gesichtspartien. Die Augen blickten mal traurig, mal fragend, mal entsetzt, mal glücklich, mal gedankenverloren - eines weinte. Diese Augenmotive, die eine ganze Wandfläche des Ateliers beherrschten, zogen Ralfs Blicke immer wieder auf sich. Manche Nacht hatte er schon von ihnen geträumt. Ihnen wohnte eine Art von Magie inne und sie schienen ein eigentümliches Eigenleben zu führen: Jedes Mal, wenn Ralf sie anschaute, erzählten ihm diese Augen eine andere Geschichte...
       Im Atelier lief Paul ausschließlich in seinem blaugrauen, farbübersäten Kittel herum. Wenn Ralf zu Besuch kam, gab es Tee. Paul hatte in seinem Küchen-Regal viele Sorten stehen. Am liebsten mochte Ralf den Rotbusch-Tee. Teebeutel gab es keine, stattdessen wurde der lose Tee in speziellen Kupferdosen aufbewahrt und beim Zubereiten in ein kleines Einhängesieb gefüllt und mit der Stoppuhr ins fast noch kochende Wasser der Teekanne gehängt.
       Die dünnwandigen Porzellan-Teetassen besaßen ein blaues verschnörkeltes Muster auf weißem Grund und ergaben tatsächlich ein vollständiges Service. Sie waren entgegen der sonstigen Geschirrteile nicht aus diversen verschiedenen Fragmenten zusammengesetzt. »Dieses Service begleitet mich schon mein ganzes Leben, Ralf. Es erinnert mich an meine Mutter. Sie starb an meinem fünfzigsten Geburtstag. Dieses Service besaß sie schon, als ich noch ein Kind war. Es ist seltsam, aber nur aus diesen Tassen schmeckt mir der Tee wirklich! Schon verrückt, nicht wahr?«
       Paul pflegte viele solcher Marotten; eine andere war, dass er sich niemals seine Zigarre im Atelier anzündete, sondern zum Rauchen auf den Balkon ging, der neben der großen Glasfront lag. »Das Nikotin verdirbt die Oberflächen meiner Bilder, das geht nicht. Außerdem, ob du es glaubst oder nicht, mich stört der kalte Qualm am nächsten Morgen selbst. Schon seltsam für einen Raucher, was?«
       Erstaunlicherweise schien Paul niemals schlechter Stimmung zu sein, Karlchen übrigens auch nicht. Der wohnte in einem Umzugskarton, mit einem blumenverzierten Rundbogenausschnitt versehen, entfernt einer Hundehütte ähnelnd. Diese

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