Ich war nur kurz bei Paul
davon.
»Spatz, wo bleibst du denn immer? Kannst du nicht einmal pünktlich von der Schule kommen? Das Kotelett ist fast verbrannt und hart.« Vorwurfsvoll sah ihn seine Mutter an und stemmte die Hände in die Hüften. »Los, wasch dir die Hände und dann setz dich!« Ralf gehorchte. Seine Mutter nahm ihm die Jacke ab und wollte sie aufhängen, dabei hielt sie plötzlich inne und stutzte. Sie fühlte den harten, eckigen Karton in seinen unergründlichen Taschen.
»Was ist denn das?« Irritiert zog sie den zerknautschten Würfelzuckerkarton hervor. Mist, an den hatte er nicht mehr gedacht; wollte ihn doch längst in den Papierkorb vor der Schule geworfen haben. »Würfelzucker? Wozu braucht ihr den denn?«
Geistesgegenwärtig fiel ihm als Ausrede ein: »Wir haben in Physik die Kapillarwirkung besprochen, da sollten wir alle ein paar Stücke Zucker mitbringen.«
»Ach so!« Seine Mutter schien mit der Auskunft etwas anfangen zu können. »Aber gleich einen ganzen Karton?« Damit war das Thema beendet, und Ralf war froh, dass ihm das so schnell eingefallen war. Nach dem Essen hatte er es eilig. »Ich muss noch mal schnell zu Paul! Komme gleich wieder!«
»Du solltest erst deine Hausaufgaben erledigen! Warum rufst du diesen Paul nicht einfach an?« Verdammt! Heute sah er sich wirklich einer unendlichen Reihe unerfreulicher Fragen ausgesetzt. Sein Hirn lief auf Hochtouren. »Geht nicht, muss ihm was zeigen! Das kann man nicht am Telefon!« Er konnte ihr doch nicht ernsthaft erklären, dass Paul kein Telefon besaß .
»Na, schön, aber beeil dich! Wenn du vor dem Training deine Hausaufgaben nicht fertig hast, bleibst du zuhause. Nur, dass du klar siehst!«
»Jaaa, Mama!«
Paul schien schon auf ihn gewartet zu haben. »Komm rein, Junge! Tee?« Ralf schüttelte den Kopf.
»Hab heut nicht so viel Zeit! Ich wollt mich nur bei dir bedanken! Das war wirklich Rettung in letzter Sekunde!« Karlchen war aus seinem Karton herausgekommen und spulte die volle Begrüßungsprozedur ab. Paul sah ihnen zu und nickte nur. Seine Augen blickten ernst. »Ich weiß ja, dass mit denen nicht zu spaßen ist. Deshalb hab ich mich zur Sicherheit in Reserve gehalten. Man weiß ja nie! Dein Vorderrad ham'se eingetreten, nich?« Ralf nickte.
»Ist schlecht zu reparieren; kriegt man nie wieder sauber hin! Ich hab noch eines im Keller stehen. Ist doch 'nen 26er, oder? Den Mantel müsstest du vielleicht tauschen. Kannst du das?«
»Klar kann ich das! Wer ist denn dieser Todd, von dem du Maik erzählt hast?«
»Ist ein Junkie, der sich sein Zubrot mit Dealen und Gelegenheitseinbrüchen verdient. Hat immer 'ne wechselnde Truppe von vermummten Gestalten um sich herum. Die beiden Gruppen hatten mal Streit miteinander, warum weiß ich nicht. Das kam mir vorhin spontan in den Sinn um sie abzulenken. Schätze, jetzt hast du erst einmal eine Weile Ruhe vor denen. Die sind beschäftigt!«
»Hast du denn gar keine Angst, dass das rauskommt und sie dir auf die Pelle rücken?«
»In meinem Alter, Junge, hat man keine Angst mehr! Es kommt, wie es kommt! Mach dir mal keine Sorgen um mich?« Karlchen war fertig und verzog sich wieder in seinen Karton.
»Meine Klassenlehrerin, die Frau Böhmer, hat mich nach dem Vorfall aufgegabelt und nach Hause gefahren. Sie muss mitbekommen haben, dass Maik etwas mit meinem kaputten Fahrrad zu tun hat. Ich hab aber nichts erzählt. Wer weiß, was dann wieder daraus geworden wäre!«
»Warten wir mal ab. Vielleicht is ja nu erstmal Ruh. Wenn nicht, können wir uns immer noch an die Lehrer wenden, oder?« Nun zeigten sich um Pauls Augen wieder die altvertrauten Lachfältchen. »Ich komm mit runter, dann suchen wir dir das 26er Vorderrad im Keller raus. Wenn du mit der Reparatur nicht klar kommst, können wir es gemeinsam richten!«
Kapitel 9
Karlchen war wie immer als erster an der Tür. Das Klingelzeichen, das sie beide schon seit zwei Wochen vermisst hatten, kündigte den Jungen an: Zweimal kurz -- einmal lang! So klingelte nur Ralf!
Paul drückte den elektrischen Summer und ließ die Wohnungstür einen Spalt breit offen. Karlchen kläffte und rotierte wie wild um sich selbst - seine Art des Stressabbaues! In den Kläffpausen hörte Paul, wie der Junge schleppenden Schrittes die ausgetretenen Holz-Stiegen erklomm.
Das hörte sich nicht gut an! Für gewöhnlich stürmte Ralf, meist mehrere Stufen auf einmal
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