Ich war nur kurz bei Paul
gerade jetzt, während der Pubertät, wäre dies so wichtig!
Paul erinnerte sich des Irrsinns seines eigenen Lebens. War er damals nicht auch zu unaufmerksam und egoistisch gewesen, als er noch als freier Modefotograf richtig gut im Geschäft war? Sicher nicht ohne Grund hatte Gertrud es mit ihm irgendwann nicht mehr ausgehalten und ihm diesen Brief hinterlassen, zwölf Seiten stark, in dem sie ihm jede seiner Verfehlungen mit buchhalterischer Akribie aufgelistet hatte, bevor sie für immer aus seinem Leben verschwand.
Man fand ihre Leiche und die des Jungen zwei Tage später im Wald. Die Autopsie ergab, dass sie Norbert Schlaftabletten gegeben hatte und sich und den Sohn dann durch Abgase vergiftete. Lange Zeit hatte er daraufhin nicht mehr gearbeitet, hatte sich nur noch dem Alkohol ergeben und war irgendwann selbst mehr tot als lebendig. Hätte ihn nicht Manfred, sein alter Freund aus Jugendtagen, gefunden und bei sich aufgenommen, wäre er irgendwann wie ein Hund im Straßengraben verendet.
Manfred war es auch, der ihn vom Trinken abbrachte und zum Malen inspirierte. Tja, sein alter Freund Manfred, einst mit ganzer Seele Pastor und Seelenretter. Er hatte ihm auf dem Sterbebett versprechen müssen, nie wieder zu fotografieren. Nur im Malen könne er die Ruhe und die wahre Quelle finden, die es ihm ermöglichen würde, sich im Leben wieder zurechtzufinden und sich zu stabilisieren, hatte Manfred ihn beschworen.
Manfred war auch der einzige Mensch, außer den Kripobeamten, der diesen Zwölf-Seiten-Brief von Gertrud gelesen hatte, der mit so vielen Vorwürfen und mit soviel Verzweiflung gespickt war. Manfred hatte ihn überzeugen können, dass Gertrud schon bei der Heirat an einer unerkannten Depressionen gelitten hatte, deren Opfer sie und ihrer beider Sohn, Norbert, geworden waren.
Aber dennoch; auch wenn die Vorwürfe vielleicht sehr übertrieben waren, so hatten sie doch bewirkt, dass er sie sich zu einem gewissen Teil zu Eigen machte. Deshalb auch die vielen Bilder von Augen, die so unendlich viele Facetten menschlichen Gefühls ausdrückten.
Hätte Norbert nicht mit sieben Jahren sterben müssen, so hätte er, Paul, jetzt vielleicht einen Enkel in Ralfs Alter gehabt. Das Leben spielte einem schon manchmal seltsam mit! Nun war seit einiger Zeit diese Freundschaft zu dem Jungen entstanden, und der war ihm schon jetzt sehr ans Herz gewachsen. Er hatte Ralf von Beginn an gemocht, hatte er doch schon beim ersten Treffen im Bushäuschen gemerkt, wie unglücklich der Junge war. Ralf hatte sich ihm im Laufe der Monate immer mehr anvertraut. So hatte sich Paul plötzlich in der Funktion des fehlenden Großvaters befunden. Der Junge war sehr sensibel, verfügte jedoch gleichzeitig über sehr viel Mut und Stehvermögen. Es bedurfte manchmal nur kleiner Ratschläge oder leichter Korrekturen, um ihm die Bahn zu ebnen und ihm begehbare Wege aufzuzeigen.
Er wollte Ralf noch mehr unter seine Fittiche nehmen. Vielleicht konnte er dadurch ein klein wenig von seiner eigenen Schuld tilgen und dazu beitragen, diese verrückte Welt mit ihren zerrissenen Familien ein wenig heiler zu machen. Mal sehen...
Durch das lange, unbewegliche Sitzen fing sein rechtes Knie wieder an zu schmerzen. Verdammte Arthrose! Das letzte Fünkchen Licht war am Horizont erloschen und eine sternenlose Nacht deckte alles zu, wie unter einer schützenden Decke.
Kapitel 10
Paul behielt recht: Die Fußballschuhe kamen tatsächlich, wenn auch mit zwei Tagen Verspätung. Ralf hatte, auch wenn er es sich nicht wirklich eingestand, immer noch sehnsüchtig auf sie gewartet und gehofft, dass seine Befürchtung, sein Vater hätte seinen Geburtstag vergessen, sich als unbegründet herausstellte.
Und so war es! Als er beim Heimkommen die Wohnungstür aufschloss, ging die Tür von Frau Hoffmann, der Nachbarin auf. Sie musste ihn abgepasst haben. »Hier, Ralf, das hat heute Vormittag der Paketbote für dich abgegeben. Ich hab für dich unterschrieben.« Ihre wässrigblauen Augen hinter der Brille lächelten ihn an, als sie ihm die Sendung übergab. »Absender ist Siegfried Jensen! Hast du noch einen Bruder?«
»Nein, das ist mein Vater.«
»Ach so? Na, dann... « Sie schloss leise wieder ihre Tür und Ralf konnte nur noch ein schnelles Danke murmeln. Sein Herz klopfte vor Aufregung. Er war noch nicht in der Küche angekommen, als das Einschlagpapier bereits aufgerissen auf dem Boden lag.
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