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Ich war nur kurz bei Paul

Ich war nur kurz bei Paul

Titel: Ich war nur kurz bei Paul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herfried Loose
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Kein Anruf, kein Paket, einfach nichts! Vergessen!«
       Paul wurde das Herz eng und er legte seinen Arm um die Schulter des Jungen, der jetzt einen verdächtig glasigen Blick bekam. »Das liegt bestimmt an der Post! Dein Paket kommt garantiert morgen; da waren doch jetzt die Feiertage zwischen und die bei der Post hatten letzte Woche eine Betriebsversammlung! Sollst mal sehen: Morgen sind die bestimmt da. Dein Vater vergisst doch deinen Geburtstag nicht!«
       »Hat er ja schon...!« Paul fühlte ein leichtes Zucken in den Schultern des Jungen. Schnell wechselte er das Thema.
     
    Als Ralf schon längst gegangen war, dachte Paul noch immer an das, was ihm der Junge erzählt hatte. Es war schon traurig, diese Sache mit seinem Vater und dem vergessenen Geburtstag. Glücklicherweise hatte er den Jungen ablenken können und es dann doch noch geschafft, wieder diese jugendliche Unbekümmertheit in Ralfs Gesicht zu zaubern, die ihn immer so anrührte.
       So hatten sie noch eine ganze Weile von diesem und jenem gesprochen und beschlossen, am übernächsten Samstag mit Ralfs Kanadier bis Rothenhusen zu paddeln. Ralf war hellauf begeistert von dem Plan und wollte auch unbedingt eine Angel zu der Tour mitnehmen.
       Dann beschloss Paul, von einem plötzlichen Einfall beseelt, noch einmal mit dem Bus in die Stadt zu fahren. Er hatte plötzlich etwas Dringendes zu erledigen! »Karlchen, pass du nur gut auf und lass niemanden rein! Ich bin in zwei Stunden zurück!« Karlchen klopfte zur Bestätigung dreimal mit dem Schwanz gegen den Pappkarton, dass es krachte.
     
    Nachdem Paul von seiner ungewohnten Tour zurück war und Karlchen sein Abendessen in den Napf füllte, beschloss er noch etwas zu malen. Er nahm das angefangene Acryl-Bild von der Staffelei und spannte eine neue Leinwand in den Rahmen. Mit kühnem Schwung und geübten Pinselstrichen begann innerhalb weniger Minuten, ein Auge Gestalt anzunehmen. Dieses Auge bekam eine dunkelbraune Iris mit einem rautenförmigen Lichtpunkt darin. Über dem Auge eine kräftige, wilde Augenbraue. In den Augenwinkel malte Paul die Andeutung einer Träne, winzig, für den flüchtigen Betrachter kaum wahrnehmbar.
       Nach einer halben Stunde war er auch mit dem Hintergrund fertig, der aus wenigen sehr breiten Pinselstrichen bestand. Sie waren diagonal mit hellgrauen und zartbraunen Farben aufgesetzt und verliehen dem Bild eine eigentümliche, wilde Dynamik.
       Paul betrachtete zufrieden sein Werk: Das war genau der Ausdruck, den er im Sinn gehabt hatte - dieser Blick, gefüllt mit Verletztheit, Traurigkeit und doch ebenfalls mit kühner, jugendlicher Entschlossenheit und Kraft darin. Paul wusch die Farben aus den Pinseln, hing seinen Kittel an den Haken und begab sich nach draußen auf den Balkon.
       Dort, auf dem kleinen Tisch, stand bereits seine Flasche Traubensaft mit einem sauberen Glas. Daneben ein  Ascher mit einem kalten Stumpen darin. Paul setzt sich, schenkte sich ein und ließ ein Streichholz aufflammen. Dann sah er versonnen den Rauchwolken nach. Der Abendhimmel über den Dächern der Häuser färbte sich orangerot und dunkle Nachtwolken zogen bizarr über den Himmel.
       Karlchen stand fragend vor seinem Herrchen. Paul klopfte einmal auf seinen Schenkel. Wie der Blitz sprang der kleine Hund auf seinen Schoß und rollte sich zufrieden zusammen. »Na, Karlchen, das hätten wir auch nicht gedacht, dass wir beide noch einmal zu einem Enkel kommen, was?« Karlchen grunzte und bohrte seine Schnauze in Pauls Leistengegend.
       An diesem heutigen Nachmittag war etwas Besonderes geschehen. In Pauls Herzen hatte sich eine kleine Tür aufgetan, die er lange Zeit nicht mehr geöffnet hatte und von der er glaubte, dass der Schlüssel zu ihr schon lange unwiederbringlich verloren war - doch nun war dieser Schlüssel plötzlich wieder aufgetaucht und bisher verdrängte Gedanken gingen ihm durch den Kopf.
       Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit konnte er diese wieder zulassen. Ihm wurde ganz warm ums Herz. Er gestand sich ein, dass ihm Ralf und unbekannterweise auch dessen Mutter ans Herz gewachsen waren. Diese Yvonne war eine tapfere Frau, die alles ihr Mögliche tat, um Ralf die Trennung von seinem Vater und seiner Schwester erträglich zu machen, obwohl sie selbst zutiefst verletzt war. Und dieser Siegfried Jensen, der Vater, der nicht sah, welch einen Scherbenhaufen er verursachte und jede sich ihm bietende Chance verpasste, Zugang zu seinem Sohn zu finden -

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