Ich war seine kleine Prinzessin
bis heute nicht erklären
kann.
Nachdem die Beamten mit meinem Vater
davongefahren waren, rannte ich aus meinem Zimmer und stürzte mich wie eine
Wahnsinnige auf meine Mutter. »Was für einen Mist hast du jetzt wieder gebaut?«
schrie ich sie an. »Das ist allein deine Schuld! Bloß weil du nicht mit dem
Geld umgehen kannst! Darum haben sie Papa abgeholt! Da hast du etwas Schönes
angerichtet! Du machst nichts als Dummheiten!« Dazu muß ich sagen, daß ein paar
Tage vorher ein Mann zu uns gekommen war, der Papa wegen einer unbezahlten
Rechnung über Baumaterial mahnte. Das hatte ich nicht vergessen.
Tags zuvor hatte ich meinen Vater
gebeten, er möge mich endlich in Ruhe lassen. Seit Monaten sehnte ich mich insgeheim
danach, aus meiner mißlichen Lage befreit zu werden. Und jetzt war es soweit:
Ich war frei, gerettet. Die Polizei hatte den Mann verhaftet, der mich
vergewaltigt, mir meine Unschuld geraubt hatte. Meinen Vater, den
Kinderschänder. Und was machte ich? Ich wollte ihm zu Hilfe kommen. Er war
immerhin mein Vater! Ich war es ihm schuldig, daß ich ihn liebte. Der Gedanke,
er könnte meinetwegen festgenommen worden sein, kam mir überhaupt nicht. Ich
wollte ihn schützen, ihn verteidigen. An den Inzest dachte ich nicht. Ich
glaubte, er sei wegen seiner Schulden abgeholt worden.
Das Wort Inzest kannte ich damals noch
nicht. So etwas lernt man nicht in der Schule. Mein Vater hatte uns immer mit
Romeo und Julia verglichen. Und so wollte ich ihn trotz allem, was er mir
angetan hatte, verteidigen. Obwohl ich seinetwegen furchtbar gelitten und mich
ganz in mich selbst zurückgezogen hatte, wollte ich ihm zu Hilfe kommen und
verhindern, daß die Gendarmen ihn mitnahmen. Es dauerte eine Weile, bis ich die
Zusammenhänge durchschaute und seine Verhaftung akzeptierte. Für mich ging
alles viel zu schnell.
Der Anstoß war von meiner Musiklehrerin
gekommen. Sie hatte eine Sozialarbeiterin informiert, und die wiederum
alarmierte die Polizei. Einige Stunden nach der Festnahme meines Vaters kamen
die Beamten zurück und forderten mich auf, ein paar Sachen zusammenzupacken.
»Du wirst für ein paar Tage in einem Heim wohnen.«
Ich habe nicht einmal geweint. Ich ging
in mein Zimmer und packte rasch das Nötigste ein. Als ich mich von meinen
Geschwistern und von Leila mit einem Kuß und einer Umarmung verabschiedete,
wollten sie wissen, wohin ich ginge. »In den Club Med«, schwindelte ich, um sie
nicht zu beunruhigen.
Der Traum von der glücklichen Familie
war wie eine Seifenblase zerplatzt, unser Leben ruiniert. Mama mußte erfahren,
daß ihr Mann mit ihrer Tochter schlief, während sie, vollgedröhnt mit
Psychopharmaka, vor sich hin dämmerte. Sie saß im Wohnzimmer und weinte. Sie
sprach kein Wort mit mir. Da mußte ich auch weinen.
Draußen wartete meine Musiklehrerin auf
mich. Sie nahm mich in die Arme, als ich hinauskam, und stieg mit mir in den
Streifenwagen. Meine Geschwister standen am Fenster und winkten zum Abschied. Mir
zerriß es fast das Herz. Nun war genau das eingetreten, was ich durch mein
Schweigen hatte verhindern wollen: Unsere Familie war kaputt,
auseinandergerissen. Meine Mutter sah ich nicht. Sie war im Wohnzimmer
zusammengebrochen...
Auf der Polizeiwache in Orange mußte
ich drei Beamten erzählen, was passiert war. Meine Musiklehrerin blieb bei mir.
Sie hielt meine Hand und sprach mir Mut zu: »Du schaffst das schon, hab keine
Angst, es wird alles gutgehen.«
Die Gendarmen waren sehr nett und
redeten beruhigend auf mich ein. Anschließend sollte meine Aussage in einem
anderen Zimmer zu Protokoll genommen werden. Eigentlich wollte ich nicht mehr
darüber sprechen. Auf dem Flur bin ich meinem Vater begegnet. Ich konnte ihm
nicht in die Augen schauen, ich hatte das Gefühl, ihn verraten zu haben. Ich
hatte Angst. Er sah mich an, aber er machte nicht den Eindruck, als sei er
wütend auf mich oder würde mich zur Hölle wünschen. Er sagte: »Ich wollte dir
nicht weh tun. Ich habe deine Mutter geliebt... Liebt sie mich noch?«
Ich verstand überhaupt nichts mehr...
Später kam Mama auf die Wache. Sie
weinte immer noch. Sie war völlig fassungslos. Für sie war eine Welt
zusammengebrochen. Jeder anderen Mutter würde es in der gleichen Situation wohl
genauso ergehen. Sie eilte auf mich zu und drückte mich an sich. »Mein Mädchen,
mein armes, armes Kind!«
Mehr sagte sie nicht. Sie war absolut
hilflos. Meine Musiklehrerin hielt noch immer meine Hand und machte mir Mut.
Aber ich brachte es
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