Ich war seine kleine Prinzessin
ihren
Depressionen, gegen die nur Tabletten halfen, wie würde sie das alles
verkraften? Wovon sollten sie zu Hause leben? Was würde aus dem Haus werden?
Hatten sie Papa schon ins Gefängnis gesteckt? Was erwartete ihn? Würde er mich
verhauen, weil ich geredet hatte? Wie lange würden sie mich wohl hierbehalten?
Fragen über Fragen, auf die ich keine Antwort wußte.
Bilder stiegen vor mir auf. Szenen mit
meinem Vater. Was er alles mit mir gemacht hatte, Dinge, die Spuren
hinterlassen hatten, das erste Mal zum Beispiel oder auch die Sache mit dem
Kondom. Ich versuchte zu verstehen, warum er das getan hatte. Und warum mit mir
und nicht mit meiner Schwester? Noch eine Frage, die ich nicht beantworten
konnte. Ich wußte nur eins: Von jetzt an mußte ich irgendwie allein
zurechtkommen. Wieder einmal. Ich legte mich hin und schlief ein. Geweint habe
ich nicht.
Als ich am anderen Morgen aufwachte,
waren meine Zimmergenossinnen schon fort. Panik ergriff mich. Ich hatte Angst
allein. Ich sprang aus dem Bett, zog mich in aller Eile an und trat auf den
Flur hinaus. Es war niemand zu sehen. Die fremde Umgebung erfüllte mich mit
Unbehagen. Ich hatte das Gefühl, sämtliche Bewohner waren geflohen, wie während
eines Bombenangriffs im Krieg, und hatten mich vergessen. Die sind alle
abgehauen und haben mich ganz allein hier zurückgelassen, dachte ich. Zögernd
ging ich durch den endlos langen Korridor. Endlich hörte ich etwas, erst nur
ein Gemurmel, dann einzelne junge Stimmen. Sie kamen aus der Küche.
Ich hatte Herzklopfen vor Angst. Vor
der Küchentür hielt ich einen Moment inne. Behutsam drückte ich die Klinke
herunter und öffnete sie. Und da saßen sie alle miteinander an einem langen,
rechteckigen Tisch. Alle starrten mich an. Ich war die einzige Neue, die
einzige, die niemanden kannte. Obwohl sie mich anlächelten, brach ich in Tränen
aus.
Mitten unter ihnen saß ein junger Mann
mit einem sympathischen Gesicht. Er war groß und stämmig und hatte ziemlich
kurze Haare. »Komm rein«, forderte er mich auf. Ich setzte mich neben ihn. »Ich
heiße Alain«, stellte er sich vor. »Ich bin Erzieher.« An die anderen gewandt,
fügte er hinzu: »Das ist Nelly. Sie ist heute nacht angekommen. Seid nett zu
ihr.«
Er sagte nicht, warum ich hier war. Er
stellte mir die anderen vor: »Luc, Angélique, Carole, Jean-Pierre...« Die
Mädchen und Jungen waren entweder in meinem Alter oder jünger. Insgesamt lebten
etwa hundert Jugendliche im Heim. An diesem Morgen waren zum Glück nicht alle
da. In der Nacht hatten sich auch einige Frauen vor ihren prügelnden Männern hierhergeflüchtet.
Alle lächelten mich freundlich an, aber
ich weigerte mich, ihre Freundlichkeit zu erwidern. Ich wollte nichts mit
diesen Kindern zu tun haben, die aus irgendwelchen Gründen im Heim gelandet
waren. Ich kannte sie nicht. Sie gehörten nicht zu meiner Familie. Ich wollte
weder ihre Bekanntschaft machen, noch mich mit ihnen unterhalten. Alle redeten
auf mich ein, fragten mich aus, um zu erfahren, weshalb ich hier war. Ich
antwortete nicht. Ich schämte mich meiner Geschichte, ich wollte nicht darüber
sprechen. Am liebsten wäre ich davongelaufen. Mama... Mein Haus... Papa... Ich
fing wieder an zu weinen, ich litt, wie ich noch nie in meinem Leben gelitten
hatte.
Ich schlang in aller Eile mein
Frühstück hinunter, stand wortlos auf und kehrte in mein Zimmer zurück. Aber
sie liefen mir nach und fragten aufs neue: »Warum bist du hier? Was hast du
denn angestellt? Bist du von deinen Eltern verprügelt worden?« Aus mir würden
sie nichts herauskriegen! Ich biß die Zähne zusammen und schwieg eisern. Das war
mein Leben, und was passiert war, sollte mein Geheimnis bleiben.
Ich blieb standhaft: An dem Tag verriet
ich kein Sterbenswörtchen von meiner Geschichte. An dem Tag bekam ich aber zum
erstenmal meine Periode. Ich glaube nicht, daß das Zufall war, sondern eher
eine Folge der Aufregung und des Schocks. Wieder einmal mußte ich alles allein
bewältigen. Ich hatte niemand, mit dem ich hätte reden, der mir meine Fragen
hätte beantworten können. Wenigstens war ich jetzt tatsächlich eine kleine
Frau.
Am Tag nach meiner Ankunft sagte Alain
zu mir: »Du mußt wieder zur Schule gehen. Genau gegenüber ist eine. Dort gehen
alle Kinder von hier hin.«
Ich fing an zu heulen. Das mag sich
vielleicht dumm anhören, aber daran hatte ich überhaupt nicht gedacht. Ich war
der Meinung gewesen, ich würde den ganzen Tag im Heim bleiben und nichts
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