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Ich war seine kleine Prinzessin

Ich war seine kleine Prinzessin

Titel: Ich war seine kleine Prinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nelly
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tun.
Der Gedanke, eine Schule besuchen zu müssen, versetzte mich erneut in Panik.
Ich hatte Angst vor jeder Begegnung mit Fremden. Ich wollte einfach nicht mehr
über meine Geschichte sprechen. Ich hatte die Fragen, ja sogar die Blicke satt.
Einen Blick empfand ich bereits als Vorwurf. Niemand konnte mich verstehen. Ich
dachte, ich sei selbst im Heim die einzige, die ein ernstes Problem hatte, die
einzige, die etwas Schlimmes durchgemacht hatte.
    Die anderen Kinder waren von zu Hause
ausgerissen, weil es ihnen dort nicht mehr gefiel, weil sie sich unverstanden
und ungeliebt fühlten, die Mutter depressiv oder der Vater Alkoholiker war. In
meinen Augen war das alles nicht dramatisch. Keins der Kinder war von seinem
Vater mißbraucht worden. Das war der Grund, weshalb mir im Umgang mit den
anderen so unbehaglich zumute war.
    Mir war ganz flau, als ich die Schule
betrat. In meinem Bauch krampfte sich alles zusammen. Alles in mir sperrte sich
dagegen. Sogar das Gehen fiel mir schwer. Alain suchte den Direktor auf, um
mich anzumelden. Ich sollte die gleiche Klasse besuchen wie ein anderes
Heimkind, damit ich mir nicht so verloren vorkäme. Der Direktor begleitete mich
ins Klassenzimmer. Aber als ich vor den anderen stand, war es aus. Ich bekam
einen hysterischen Anfall, weinte und schrie. Ich wollte nicht, ich konnte
nicht! Alain hatte ein Einsehen. Er nahm mich an der Hand und meinte: »Das ist
nicht tragisch. Dann wartest du eben noch ein paar Tage, bis du wieder zur
Schule gehst. Vielleicht nächsten Montag...«
    Ich kehrte mit ihm ins Heim zurück. Ich
war ganz allein dort. Es war totenstill in dem großen Gebäude. Ich setzte mich
vor den Fernseher und ließ ihn den ganzen Tag eingeschaltet. Fünf Minuten
schaute ich zwischendurch immer mal hin. Meistens sah ich jedoch zum Fenster
hinaus, ohne irgend etwas wahrzunehmen. Ich stellte mir vor, was meine Mutter
jetzt gerade machte, und hoffte sehnlichst, daß sie mich bald hier herausholen
würde. Ich dachte auch an meinen Vater. Es waren immer die gleichen Dinge, mit
denen ich mich unablässig beschäftigte: unser glückliches Zuhause, die
Vergewaltigung, das Unglück, das uns alle, Papa, Mama, meine Geschwister und
mich, getroffen hatte... Wieder fing ich an zu schluchzen. Wie würde es
weitergehen? Was hatten sie mit mir vor?
    Am späten Nachmittag kamen die anderen
Kinder aus der Schule. Aber sie setzten sich gleich hin, um ihre Hausaufgaben
zu machen. Ich hatte nichts anderes zu tun, als meine Probleme zu wälzen. Wie
ein Film liefen die Ereignisse vor mir ab, immer wieder. Es gelang mir nicht,
ihn anzuhalten. Dabei tat es so weh. Papa auf mir, Papa, der mich zum Sex zwang...
Bis zum Abendessen dachte ich an nichts anderes. Nach und nach fanden sich alle
im Speisesaal ein. Alle lächelten mir zu. Als wir um den großen Tisch
herumsaßen, ging die Fragerei von vorn los: »Nun sag schon, warum bist du
hier?«
    Ich schwieg. Aber sie bekamen es doch
heraus. So was spricht sich natürlich herum. Ich hörte sie hinter meinem Rücken
tuscheln: »Sie ist von ihrem Vater vergewaltigt worden.« Das traf mich ziemlich
hart. Ich zog mich mit meinen düsteren Gedanken in mein Schneckenhaus zurück
und kapselte mich ab. Das war meine Art der Verteidigung.
    Die nächsten Tage im Heim verliefen
genauso wie der erste. Ich weigerte mich, zur Schule zu gehen, und blieb allein
in dem großen, leeren Gebäude. Irgendwann war die Schonfrist dann aber doch zu
Ende. Ich wurde mit neuen Gesichtern, neuen Fragen konfrontiert und begegnete
ihnen abermals mit Schweigen und Verweigerung. Ich saß da und starrte zum
Fenster hinaus, während ich unablässig über die gleichen Dinge nachgrübelte.
Das ging so weit, daß ich die Stimme des Lehrers gar nicht mehr hörte. Als ob
man sich nach einer solchen Erfahrung noch für Geschichte oder Geographie
interessieren könnte!
    Am Wochenende machten wir alle zusammen
mit den Erziehern einen Ausflug, entweder einen Spaziergang durch die Stadt
oder eine Wanderung irgendwo außerhalb im Grünen. Das machte es jedoch auch
nicht erträglicher. Es war nun mal nicht dasselbe wie ein Ausflug mit der
Familie. Ich hatte die Nase voll von diesem Heim. Am liebsten wäre ich
weggelaufen. Aber da war nicht dran zu denken. Ich war zur Einsamkeit
verurteilt. Ich hatte niemand, der auf mich und meine Probleme einging. Die
Erzieher waren zwar sehr nett, aber sie konnten sich nicht um jedes einzelne
Kind kümmern. Für mich war das eine schlimme Erfahrung, weil ich das

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