Ich war seine kleine Prinzessin
nicht fertig, Einzelheiten zu schildern. Ich wollte nicht.
Es war wie eine Sperre in mir. Ich fühlte mich so schmutzig. Und ich schämte
mich, vor fremden Menschen darüber zu sprechen. Ich bestätigte nur, was sie
bereits herausgefunden hatten. Ich bat sie außerdem, meinen Vater nicht ins
Gefängnis zu schicken. Dafür wollte ich nicht verantwortlich sein.
Anschließend brachten sie mich ins
Krankenhaus, damit ich von einem Gynäkologen untersucht wurde. Da es bereits
Mitternacht war, dauerte es eine Weile, bis sie einen Arzt gefunden hatten. Er
sollte feststellen, ob ich gelogen hatte oder nicht... Ich fand das ekelhaft.
Ich mußte mich in den gynäkologischen Stuhl setzen, und alle standen um mich
herum. Ich machte die Augen zu. Meine Musiklehrerin drückte meine Hand. Sie war
die ganze Zeit bei mir geblieben. Der Gynäkologe stellte fest, daß ich die
Wahrheit gesagt hatte.
Ich wurde sofort in ein Heim gebracht.
Als wäre ich ein Waisenkind.
Im Heim
Ich wollte mich umbringen. Ich habe es
dreimal versucht, einmal im Heim, zweimal danach. Ich habe mir mit Glasscherben
die Arme aufgeritzt. Ein andermal wollte ich meine Kleidung in Brand stecken.
Ich habe mir aber auch einen Schnuller und ein Babyfläschchen gekauft. Und ich
bin weggelaufen, habe geraucht und gestohlen. Das passierte alles innerhalb
kürzester Zeit. Alles mit zwölf Jahren. Schuld daran war nicht nur die Sache
mit Papa, sondern auch das Heim, in das man mich gesteckt hatte. Ich war vier
Monate dort, von Mai bis September. Nach Hause durfte ich nicht. Man hatte es
in Anbetracht der Umstände für besser gehalten, mich »vom häuslichen Milieu zu
isolieren«. Das geschah freilich nur zu meinem Besten. Aber hätte sich nicht
meine Mutter oder meine Großmutter um mich kümmern können? Ich hätte ihre Hilfe
so nötig gebraucht. Ich war völlig durcheinander, die Ereignisse haben mich
einfach überrollt. Ein glückliches Zuhause. Die Liebe meines Vaters. Sein
Verbrechen. Mein Vater in Handschellen. Die Polizei. Und ich im Heim. Als müßte
ich auch bestraft werden.
Ich kam gegen zwei Uhr morgens im Heim
in Avignon an. Es war der 22. Mai 1990. Dieses Datum werde ich nie vergessen.
Die Verhaftung meines Vaters, meine Zeugenaussage, die Untersuchung durch den
Gynäkologen und sofort danach die Einweisung ins Heim. Alles am gleichen Tag.
Der große Bau am Stadtrand, ein
moderner, schmuckloser Kasten in unmittelbarer Nähe einer Nationalstraße, glich
mit seinen langen, düsteren Korridoren den Waisenhäusern, die ich aus Filmen
kannte. Keine zehn Pferde würden mich in so ein Heim kriegen, nicht einmal
dann, wenn meine Eltern sterben sollten, hatte ich mir damals geschworen. Und
jetzt war ich doch da, und das, obwohl meine Eltern noch lebten. Man hatte mich
abgeschoben. Mir kam es so vor, als sollte ich für einen Fehler, den ich nicht
begangen hatte, bestraft werden.
Weil ich Hunger hatte, gingen wir erst
einmal in die Küche. Um diese Zeit war sie freilich geschlossen. Jemand knipste
das Licht an. Der Raum kam mir riesig vor. Ich achtete überhaupt nicht auf die
Leute, die bei mir waren, sondern nur auf die Räumlichkeiten, so
angsteinflößend fand ich die Korridore und die leeren Säle in den blassen
Farben staatlicher Heime. Irgend jemand öffnete den Kühlschrank. Es war nicht
viel drin. Ich nahm mir ein paar Scheiben Schinken und einige Becher Joghurt
heraus. Als ich gegessen hatte, führte man mich in den Schlafsaal. Sechs Betten
standen in dem schlichten, rechteckigen Raum. Meins war das erste rechts neben
der Tür und dem Wandschrank. Die Fenster direkt gegenüber lagen zur Straße hin.
An den Wänden hingen Poster von Schlagerstars. Zu jedem Bett gehörte ein
kleines, einfaches Nachttischchen, und daneben stand ein Holzschreibtisch für
die Schularbeiten.
Nur zwei Mädchen bewohnten das Zimmer.
Sie schliefen. Ich zog mich so leise wie möglich aus, um sie nicht zu wecken,
schlüpfte in meinen Schlafanzug und setzte mich aufs Bett. An die Wand gelehnt,
hockte ich im Dunkeln und dachte nach. Ich brachte es nicht fertig, die Augen
zuzumachen. Mir war unheimlich zumute in der fremden Umgebung. Es war alles so
groß hier und so still. Ich kam mir ganz verloren vor. Und mir gingen tausend
Fragen durch den Kopf. Wie würde es jetzt weitergehen? Was würden sie mit mir
machen? Würde ich meine Mutter, meine Geschwister und die kleine Leila je wiedersehen?
Und mein Vater? Was würde mit ihm passieren? Und meine Mutter mit
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