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Ich war seine kleine Prinzessin

Ich war seine kleine Prinzessin

Titel: Ich war seine kleine Prinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nelly
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überhaupt
nicht kannte. Mein Vater hatte immer Zeit für mich gehabt, es war immer jemand
für mich dagewesen.
    Kinder können grausam sein; schon
allein deshalb hätte ich mir gewünscht, daß die Erzieher mehr Zeit für uns
gefunden hätten. Einmal stellte sich zum Beispiel eins der Mädchen vor mich hin
und erklärte: »Du bist selbst schuld, wenn dein Vater dich vergewaltigt hat. Du
bist eben eine Schlampe.«
    Sie sagte mir das vor den anderen ins
Gesicht. Obwohl ich dieses kleine Luder sowieso nicht leiden konnte, verletzten
mich ihre Worte sehr. Ich war tief gekränkt. »Das hast du dir selbst
zuzuschreiben, daß es soweit gekommen ist.«
    Das hatte mir noch niemand unterstellt.
Ich brach in Tränen aus. Und keiner kam und tröstete mich oder beruhigte mich
mit den Worten: »Das stimmt nicht, das ist nicht deine Schuld.« Niemand half
mir, niemand liebte mich.
     
    Jeder Tag hielt eine weitere
unangenehme Überraschung für mich bereit. Eine Woche nach meiner Ankunft im
Heim teilte mir meine Mutter mit, mein Vater befände sich wieder auf freiem
Fuß.
    Ich dachte, mich trifft der Schlag.
Mein Vater war frei. Nach nur vier Tagen Haft hatte man den Vergewaltiger aus
dem Gefängnis entlassen. Der Richter war der Ansicht, er stelle »keine Gefahr
für die Allgemeinheit« dar, wie es in der Amtssprache heißt. Man wolle der
Familie nicht »den Ernährer« wegnehmen. Er würde bei seiner Mutter, bei meiner
Großmutter Mireille, in Suze-la-Rousse wohnen. Und während kein Mensch ihm
irgendwelche Vorschriften machen würde, verweigerte man mir, dem mißbrauchten
Kind, das Recht, bei meiner Mutter zu leben. Mir war, als hätte ich einen
Dolchstoß in den Rücken bekommen. Er war frei und ich eingesperrt. Im Gegensatz
zu ihm stellte ich anscheinend eine Gefahr für die öffentliche Ordnung dar. O
ja, ich war gefährlich! Und wie!
    Der Mann, der seine kleine Tochter
vergewaltigt hatte, stolzierte im Dorf umher und amüsierte sich in der Kneipe.
Das war echt zuviel für mich. Die Leute hielten ihn für einen sympathischen
Typ. Sie hatten Mitleid mit ihm, weil er seelisch angeknackst war, wofür sie
seine Frau und seine Tochter verantwortlich machten. Sogar Großmutter Mireille
stieß ins gleiche Horn. Zu meiner Mutter sagte sie: »Dein Mann braucht dich
jetzt. Und außerdem..., wenn Nelly im Heim ist, dann wird das schon seine
Gründe haben. Ich meine, deinen Mann haben sie ja wieder freigelassen...«
    Das hat mir einen solchen Schock
versetzt, daß ich mit Alain, dem Erzieher, darüber sprach. Er versuchte, mich
zu beruhigen. »Ach was, sie haben ihn bestimmt nicht entlassen. Vermutlich hat
er nur die Erlaubnis bekommen, ein paar persönliche Sachen zu holen, und dann
muß er ins Gefängnis zurück.«
    Alain irrte. Mein Vater mußte nicht ins
Gefängnis zurück. Er verbrachte die drei Jahre bis zur Verhandlung in Freiheit.
Unbehelligt. Und im Dorf stellte manch einer die gleiche Überlegung an wie
meine Großmutter: »Wenn er draußen ist und die Kleine drin, dann wird sie ihn
scharfgemacht haben und nicht umgekehrt.«
    Daran sollten die Richter denken, wenn
sie einen Kinderschänder auf freien Fuß setzen, während das mißbrauchte Kind im
Heim untergebracht wird. Sie sollten sich in die Lage des Kindes versetzen. Ich
verstand das alles nicht. Wie sollte ich auch? Ich sagte mir, ich bin ein Kind,
er ist ein Erwachsener. Ihm hat man geglaubt, mir nicht.
    Ich hatte auf einmal panische Angst vor
der Verhandlung. Am liebsten hätte ich alles rückgängig gemacht. Ich wollte
nicht mehr vor Gericht aussagen. Alain versuchte, mir die Angst zu nehmen.
»Aber warum ist mein Vater dann frei und ich muß hierbleiben?« Darauf konnte er
mir auch keine Antwort geben. Mein Vertrauen in die Erwachsenen war zerstört.
    Zum Glück durfte Mama mich besuchen.
Sie kam jedes Wochenende. Ihre Besuche taten mir ungeheuer gut, auch wenn wir
anfangs Schwierigkeiten hatten, miteinander zu reden. Wir mußten es beide erst
wieder lernen. Unser Verhältnis wurde von Mal zu Mal besser. Manchmal dauert es
eben eine Weile, bis man wieder zueinanderfindet und sich dem anderen zu öffnen
wagt. Wir hatten nie über die Ereignisse gesprochen, wir hatten gar keine
Gelegenheit dazu gehabt. Mama hatte erst an dem Tag, an dem Papa abgeholt
worden war, von der Polizei erfahren, was passiert war, und dann waren wir auch
schon getrennt worden.
    Bei ihrem allerersten Besuch — mein
Vater war noch im Gefängnis — hatte ich sie gefragt: »Was ist mit Papa? Hast

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