Ich war seine kleine Prinzessin
Wohnung. Ich beschloß, mich auszutoben, sozusagen
das Versäumte nachzuholen, in eine andere Rolle zu schlüpfen: die des leichtlebigen
Teenagers. Wenn ich total down war, schüttete ich heimlich Alkohol in mich rein
und rauchte. Ich legte ein dickes, grelles Make-up auf, schminkte mir die Augen
ganz dunkel und malte mir die Lippen knallrot an. Ich hatte mich völlig
verändert. Ich zog Schuhe mit hohen Absätzen an und kleidete mich ganz
merkwürdig, nicht wie ein Mädchen meines Alters, sondern wie eine erwachsene
Frau, wie ein Flittchen. Und so versuchte ich mich auch zu benehmen. Ich war
nicht mehr die süße kleine Nelly, wie meine Mutter sie gekannt hatte. Trotzdem
hat Mama nie an mir herumgenörgelt. Sie sagte nur, daß das nicht zu mir passe,
mehr nicht.
Es hat ihr sehr weh getan. Vielleicht
wollte ich mich in gewisser Weise rächen für das, was mir angetan worden war.
Vielleicht versuchte ich auch nur zu verdrängen. Oder die Aufmerksamkeit auf
mich zu lenken, einen Hilferuf auszusenden, damit man auf meine Not aufmerksam
wurde.
In jenem Jahr bin ich viel mit Jungs
ausgegangen. Aber bei jeder Verabredung benahm ich mich richtig biestig und war
ziemlich gemein zu ihnen. Es machte mir Spaß, ihnen weh zu tun, sie leiden zu
sehen. Ich verstand selbst nicht, warum. Irgendwann sprach ich mit meiner
Mutter darüber. »Vermutlich willst du dich an ihnen für das rächen, was dein
Vater dir angetan hat«, meinte sie. Wahrscheinlich hatte sie recht: Sie sollten
genauso leiden wie ich. Das war nicht sehr nett von mir, aber für mich war das
der einzige Weg, mir Erleichterung zu verschaffen, sozusagen Dampf abzulassen.
Einmal sagte eine Freundin zu mir: »Wie
du die Jungs behandelst, ist echt fies. Du bist ein richtiges Ekel.« Ich zuckte
mit den Schultern. »Was verstehst du schon davon. Das sind doch alles Mistkerle...«
Ich mußte eben immer an meinen Vater
denken und daran, wie er sich mir gegenüber verhalten hatte. Die Erinnerung kam
immer wieder hoch. Wenn ich mit einem Jungen ausging, war es besser, er ließ
die Finger von mir. Ich konnte es nicht ertragen, angefaßt zu werden. Dann
setzte es sofort eine Ohrfeige. Ein kleiner Kuß, dagegen war nichts einzuwenden.
Aber bloß nicht anfassen! Ich hatte einen Horror vor jeder noch so flüchtigen
Berührung. Alles in mir sträubte sich dagegen. Genau den Fehler hatte ich
nämlich bei meinem Vater gemacht: Ich hatte mich von ihm berühren lassen. Das
sollte mir nicht noch einmal passieren. Ich hatte Angst, es könnte
weiterführen, Angst, es würde wieder damit enden, mit dem Akt... mit der
Vergewaltigung. Sofort wurden Erinnerungen an meinen Vater wach, und sein Bild
stieg vor mir auf. Das löste einen unüberwindbaren inneren Widerstand aus.
Als der erste Junge, mit dem ich nach
der Geschichte mit meinem Vater ausging, mir eines Tages einen Kuß gab, hatte
ich das Gefühl, daß er mich wie Papa küßte. Mir war ganz komisch zumute, mir
wurde richtig übel.
Du stehst noch unter Schock, sagte ich
mir, das gibt sich, du wirst sehen. Du schaffst es, du mußt nur wollen. Los,
Nelly, da mußt du durch, sonst kannst du dich gleich begraben lassen. Nichts zu
machen, es ging einfach nicht. Sobald dieser Junge in meine Nähe kam, war es aus.
Und die anderen durften mich nicht anfassen. Selbst die harmloseste Berührung
erzeugte Abscheu in mir.
Drei Jahre nach der Vergewaltigung ging
ich einmal mit einem Jungen aus, den ich sehr nett fand. Wir sind vier Monate
zusammengeblieben. Ich war total verknallt in ihn, und irgendwann haben wir
dann auch miteinander geschlafen. Für mich war es das erste Mal... Aber es war
nicht so wie für andere Mädchen. Das erste Mal ist sehr wichtig. Mein Vater
hatte mich um dieses bedeutsame Ereignis gebracht. Und deshalb war es jetzt um
so schwieriger für mich. Ich sperrte mich innerlich dagegen. Zumal mein Freund
meinem Vater ein bißchen ähnlich sah: groß, dunkelhaarig, matter Teint, grüne
Augen. Genau wie mein Vater.
Ludovic, so hieß mein Freund, wußte,
was passiert war, und war daher besonders zärtlich und rücksichtsvoll. Dennoch
konnte er mir die Angst nicht nehmen. Solange unsere Beziehung dauerte, zogen
immer wieder Szenen mit meinem Vater an mir vorüber. Es war furchtbar. Ich kam
nicht dagegen an. Ich fing an zu weinen, verkrampfte mich, blockte ab. Mir kam
es so vor, als beugte sich mein Vater über mich, um mir noch einmal das alles
anzutun. Wie ich ihn dafür haßte! Er drängte sich zwischen Ludovic und mich.
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