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Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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seine Kumpel, es
mußte schnell gehen. Dann kaufte er Möbel. Ein riesiges Ding, so etwas wie
einen Ministerschreibtisch mit einem Direktorensessel für sich. Er hielt sich
tatsächlich für außerordentlich wichtig. Größenwahnsinnig. Für mich auch einen
Schreibtisch mit einer Schreibmaschine. Ich habe ihn selbst ausgesucht. Kleine
Rache, ich nahm den teuersten. Ich sah das als Rache an, er als
Komplizenschaft. Innerhalb weniger Monate war die Falle perfekt. Ich habe das
zu spät begriffen. Offiziell war von Arbeit die Rede, von Fakturierung,
Briefen, die getippt werden mußten. In Wahrheit...
    Ich betrete dieses Büro in meinem
fünfzehnten Lebensjahr. Die Tür ist aus hellbraunem Holz. Sie macht keinerlei
Lärm. Der Teppich auf dem Boden ist braun. An den Wänden ebenso. Er verschließt
die Tür hinter uns mit dem Schlüssel. Ich mache mich auf das Schlimmste gefaßt.
    »Das ist unser Reich. Ich habe alles so
eingerichtet, daß wir keine Angst mehr zu haben brauchen. Damit wir ganz
ungestört sind. Siehst du den Teppichboden? Man kann sich darauf ausstrecken.
Kein Lärm, sehr bequem.«
    Es gibt nur ein Fenster an einer Wand,
niemand kann uns von außen sehen.
    Teppichboden, Riegel. Das ist für mich.
    »Bleibst du heute abend bei mir?«
    Ich senke den Kopf. Das bedeutet ja.
    Das gehörte auch zum neuen Prinzip,
ebenso wie der Teppichboden und der Riegel. Man stellte mir eine Frage, damit
ich mit ja antwortete. Es war wichtig, daß ich mit ja antwortete. Das kotzte
mich noch mehr an. Es hieß ja oder eine Tracht Prügel. Unmöglich, ja zu sagen.
Unmöglich, deutlich auszusprechen: »Ja, Papa.« Also senkte ich den Kopf zum
Zeichen der Einwilligung und schlich mit zusammengezogenen Schultern davon.
    Was hätten Sie an meiner Stelle getan?
    An dieser Stelle höre ich, wie Sie mir
eine Menge Ratschläge erteilen. Ratschläge sind einfach. Hätten Sie ihm
Schimpfworte ins Gesicht geschleudert? Einen ganzen Haufen Schimpfworte? Wären
Sie zu Mama gelaufen, um es ihr zu erzählen?
    »Mama, Papa hat überall in seinem Büro
Teppichboden ausgelegt, damit du nicht hörst, was er nachts mit mir macht...«
    Ich habe den Kopf gesenkt. Weil es
keine Antwort auf die Frage gab, die ich mir immer wieder stellte: »Was tun?«
    Wenn man vor vollendeten Tatsachen
steht, ist man benommen. Beschränkt. Ich war fünfzehn, und ich fühlte mich
vollkommen ohnmächtig.
    Er hatte seinen Joker: die Erpressung.
Ich nichts. Ich war ein Kind, und ein Kind hat keinen Joker. Jeder weiß, daß
wir Kinder keinen Anspruch auf Gehör haben, uns hält man nicht für fähig,
Intelligentes zu äußern. In Wirklichkeit sind die Erwachsenen saudumm. Sie sind
es, die nichts verstehen. Hoffentlich werde ich nie wie sie!
    Ich trinke Bier. »Bei C«, dem Bistro,
wo die Jugendlichen sich versammeln, um einen Schwatz zu halten. Seit einiger
Zeit trinke ich ziemlich viel, um nicht an das zu denken, was mich erwartet.
Ich bin dann weniger verkrampft. Ich kann mit den Freunden sprechen, über dies
und jenes, so tun als ob. Die Zeit verstreichen lassen. Die Einsamkeit, selbst
wenn ich mit anderen zusammen bin, ihrem Lachen, ihren Scherzen. Während die
Zeit verstreicht, versuchen, den kleinen Satz auszulöschen: »Du wirst heute
abend kommen.«
    Heute abend werde ich als Hure dienen.
Heute abend werde ich Dinge über mich ergehen lassen, die mich anekeln, und
zudem darf ich nichts davon erzählen.
    Ein Geräusch, Uhrzeiger, eine Uhr,
Stunden. Ich schaue die ganze Zeit auf meine Uhr. Wenn es doch nie neun Uhr
würde! Um neun Uhr kommt er heim. Niemand kann ihn daran hindern, in seine Wohnung
zurückzukehren. Ich habe zuviel Bier getrunken, ich habe keinen Hunger.
    Mama hat zu abend gegessen. Meine
Schwester und mein Bruder haben zu abend gegessen. Bei der Rückkehr des
Möchtegernchefs herrscht Ordnung im Haus. Kein Fernsehen nach zwanzig Uhr
dreißig für die Kinder. Dalli, dalli ins Bett, Kinder. Mama sieht so müde aus,
daß sie mir leid tut. Sie ist halbtot vor lauter Herumrennen in ihrem
Lebensmittelgeschäft, vom Ein- und Ausladen der Warenlieferungen, vom Abrechnen
und Bestellen. Sie versinkt in Antriebslosigkeit und ist mir deswegen keine
Hilfe.
    Der Möchtegernchef taucht in der Küche
auf, ohne daß ich es höre. Das versetzt mir einen Stoß in den Magen. Angst. Ich
sterbe.
    Mama stellt einen Teller für ihn auf
den Tisch, eine Gabel, ein Messer, ein Glas.
    »Nathalie hat heute abend zu arbeiten.«
    »Das ist unvernünftig. Und was ist mit
der Schule

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