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Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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meinem Kopf.
    »Nathalie, du wirst wieder zu spät
kommen... Du trödelst... und dein Frühstück? Iß etwas!«
    Das Messer liegt auf dem Tisch, neben
dem Brot, ich mache mich aus dem Staube, aus Angst, es könne von selbst in
meine Hände gelangen.
    Ich weiß nicht, wann dieser Alptraum
mit dem Messer begonnen hat. Im Schlaf wie auch tagsüber. Falls sich ein
Psychiater dafür interessiert, soll er die Gründe selbst herausfinden.
    Ich weiß, daß ich in dieser Zeit, im
zweiten Jahr meines Martyriums, eine wahnsinnige Angst hatte, wenn er mich
anbrüllte, weil ich mich ihm widersetzte. Ich machte vor Angst in die Hosen.
Und auch wenn er mir mit dem Gürtel drohte, falls ich die Absicht haben sollte,
mich jemandem anzuvertrauen. Übrigens habe ich nie etwas verlauten lassen. Ich
stellte mir vor, er hätte überall Ohren, er wüßte, wenn ich dem einen oder
anderen »davon« erzählte, von dem Geheimnis. Ich entdeckte auch, daß es mehr
sein als mein Geheimnis war. Ich war deswegen zornig auf mich. Das ja! Ich war
dreckig und er ein Ungeheuer. Aber um ihn kümmerte ich mich überhaupt nicht.
Nur ich zählte. Mein Überleben. Sein Geheimnis war Schwindel. Ich hatte nie
gewollt, was passierte, und nicht ein einziges Mal gefiel mir, was er tat. Für
ihn war es anders. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, daß ich Vergnügen dabei
empfand, daß ich glücklich war, daß alles zum besten stand, punktum. Gesetzt
den Fall, ich plauderte sein schmutziges Geheimnis aus, würde man mir nicht
glauben. In den Augen der anderen wäre ich die Schuldige. Ich gälte als die
gemeine Tochter, die ihren lieben Papa provoziert hat. Ich hätte ihn
aufgefordert, mich zu vergewaltigen. Diese Gedanken hatte ich mir selbst
zurechtgelegt, weil niemand in meinem Umkreis über Inzest sprach, niemals,
nicht einmal im Fernsehen, bis auf eine Sendung, die erst viel später lief.
Zuerst entwickelte ich diese Vorstellung von mir selbst und später von den
Dingen, die ich über vergewaltigte Frauen hörte. In den meisten Fällen gab es
keine Vergewaltigung. Immer hatte die Frau den Mann provoziert. Also wäre es
für mich dasselbe. Ich hütete sein Geheimnis aus Angst, bestraft zu werden,
falls ich es ausplauderte. Das werden Sie sicherlich nicht verstehen. Die
einzige Rettung zu einem früheren Zeitpunkt hätte darin bestanden, daß jemand
hinter mein Geheimnis kommt. Nur wurde eben nirgends darüber geredet. So daß
ich mich für einen Einzelfall hielt. Das wäre natürlich anders, wenn die
Mädchen sich über solche Dinge in der Schule unterhielten, wenn sie den Finger
heben würden und zum Lehrer sagten:
    »Herr Lehrer, mein Vater hat mich heute
nacht wieder einmal vergewaltigt, ich hab’s satt, ich ertrag’s nicht mehr...«
    Aber man hebt nur den Finger, um zu
sagen:
    »Herr Lehrer, ich habe meinen Aufsatz
nicht erledigt, ich war krank.«
    Und der andere, der Lehrer, antwortet:
    »Sie sind aber oft krank. Erfinden Sie
das nächste Mal eine bessere Ausrede!«
    Und man ist ohne Ausrede. Man tut
nichts für die Schule. Man tut nichts zu Hause. Man läßt es zu, daß sich die
eigene Mutter die ganze Arbeit aufhalst, weil man einen Mistkerl im Kopf hat,
den man nicht verdrängen kann.

5
     
    »Bitte hör mit den Pornofilmen auf...«
    »Das tut dir gut. Dabei lernst du was.«
    »Ich schwöre dir, daß ich nichts dabei
lerne.«
    »Du lügst. Schau, laß dich gehen, und
du wirst sehen, die Erregung kommt von allein. Entspann dich.«
    Ich sage nichts, tue so, als schaute
ich hin. Er ist besessen, dieser Dummkopf. Ich verachte ihn.
    »Ich habe eine Entscheidung getroffen,
das kann nicht so weitergehen. Wir brauchen einen Platz, wo wir beide ganz
ungestört sind.«
    Er hat Angst. Meine Schwester wächst
heran, sie trödelt in der Wohnung herum, neulich hätte er sich beinahe
erwischen lassen, als er mir Schweinereien über die angeblich wundervolle gestrige
Nacht — die nur ein weiterer Alptraum war — ins Ohr flüsterte.
    »Ich werde den Speicher in ein Büro
umfunktionieren, für mich, für uns beide.«
    »Aha.«
    »Ich werde ihn ausbauen, wirst schon
sehen, es wird dir gefallen. Wir können dann nachts in aller Ruhe arbeiten.«
    Na, das werden wir ja sehen.
    »Das wird dich viel kosten...«
    »Ich habe Freunde, die mir helfen; ich
bekomme den Baustoff günstig.«
    »Aha!«
    Ich war naiv. Ich schöpfte wegen seines
Wunsches nach Isolierung keinen Verdacht. Er wollte Perfektion. Daß man nichts
hört. Teppich auf dem Boden und an den Wänden. Er drängte

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