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Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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Verbot, mich vor seiner Heimkehr schlafen zu legen. Unter
dem Vorwand, daß er Arbeit für mich haben könnte. Für den Erfolg seiner
Geschäfte, für das Wohl dieser ganzen kleinen Familie. Mama ging früh mit ihren
Antidepressiva zu Bett. Im festen Glauben, ihr Mann sei wenigstens ein guter
Familienvater. In dem Glauben an die finanzielle und moralische Sicherheit.
Nicht eine Sekunde lang stellte sie sich vor, daß ein so strenger und bei der
Erziehung seiner Kinder so auf Disziplin bedachter Mensch seine Tochter zwei-
oder dreimal vergewaltigen konnte und sie mit Schlägen traktierte, sollte sie
je nein sagen. Man hat mir oft die Frage gestellt: »Und deine Mutter? Warum
hast du nicht mit deiner Mutter gesprochen?«
    Das bringt mich auf die Palme. Das
heißt, daß Sie nichts davon verstehen, weniger als nichts. Merken Sie sich ein
für allemal, daß ein Erwachsener ein Kind, das er besudelt, am Sprechen
hindert, eben dadurch daß er es besudelt hat. Das Kind weiß das. Sie täten gut
daran, einmal darüber nachzudenken, mit Ihrer beschissenen
Erwachsenenautorität. Über dieses »ich weiß alles«. Wenn ein Kind lügt oder
nicht spricht, bedeutet es, daß es Angst hat.
    Dahinter müssen Sie selber kommen,
strengen Sie sich ein bißchen an. Was glauben Sie eigentlich? Warum machen
geschlagene, vergewaltigte Kinder und sogar vergewaltigte Frauen fast nie den
Mund auf? Hm? Warum wohl? Weil sie dasselbe Problem multipliziert mit zwei
haben. Scham multipliziert mit Angst. Und das ist ein ewiger Kreislauf. Sie
bewegen sich im Kreislauf der Gleichgültigkeit, wir in dem des Entsetzens.
    Mama, plus Scham, plus Angst, plus
sadistischer Papa. Unmöglich, das Schweigen zu durchbrechen.
    Heute abend zünde ich vor seiner Nase
eine Zigarette an. Ich mache mich auf eine ordentliche Tracht Prügel gefaßt.
Aber nichts geschieht.
    Ich drücke die Zigarette im
Aschenbecher aus, auf seinem Schreibtisch, ich pfeife vor mich hin und mache es
mir vor meiner Rechenmaschine bequem. Ich zünde eine zweite an. Keine Reaktion.
    Unmöglich, daß ihm das schnuppe ist. Er
wird losbrüllen. Er muß losbrüllen. Ansonsten hätte ich nicht den Krieg vom
Zaun gebrochen, den ich will.
    Ich habe meine Arbeit beendet, ich
packe mein Päckchen Marlboro, meine Schachtel Streichhölzer und wende mich zum
Gehen.
    »Wo gehst du hin?«
    »Ich bin fertig, ich geh’ ins Bett.«
    »Morgen wirst du hierbleiben. Und du
wirst auf mich warten, ich komme etwas später heim.«
    Darauf kannst du rechnen, so wahr zwei
mal zwei vier ergibt. Morgen werd’ ich’s noch ärger treiben. Ich habe Geld aus
der Ladenkasse meiner Mutter geklaut. Es ist komisch, einfach so Geld zu
klauen. Aber mir ist das wurscht. Ich werde alles stehlen, was nötig ist, um
bestraft zu werden. Am Ende wird man mich bestrafen und mich aus dem Haus
werfen.
    Ich zünde eine Kerze im Zimmer an. Ich
halte es ohne Kerzen nicht mehr aus. Die Flamme leistet mir Gesellschaft. Ich
träume mit ihr. Sie hindert mich auch daran einzuschlafen. Immer die Angst, daß
er mit seiner bösartigen Fratze, seinem braunen Bademantel hereingeschneit
kommt. Ich gehe vollständig angezogen zu Bett. Als könnte eine Hose mich vor
irgend etwas schützen. Als wenn ein Büstenhalter seine dreckigen Pfoten daran
hinderte, sich auf mich zu legen.
    Mein Teddybär und meine schwarze Puppe,
mein Kopfkissen, meine Kerze sind alles, was ich auf der Welt besitze, um nicht
allein zu sein. Die schwarze Puppe stammt aus der Zeit, als er noch mein Papa
war. Wir waren in irgendeinem Einkaufszentrum, ich weiß nicht mehr wo. Ich war
von dieser schwarzen Puppe fasziniert. Mama wollte sie nicht kaufen, sie war zu
teuer. Wir waren schon an der Kasse, und er kam mit der Puppe angelaufen. Ich
muß zehn, elf Jahre alt gewesen sein... Ich war so glücklich. Ich bin fünfzehn,
aus dem kleinen Schatz von Papa ist die Hure von Papa geworden, und die schwarze
Puppe ist immer noch da und sieht mich an, während ich ihr von meinen Träumen
erzähle. Ich träume davon, daß alles vorbei ist, daß er wieder der Vater von
früher wird. Oder auch, daß er fortgeht, daß er uns verläßt, um anderswo zu
leben. Manchmal bin ich es, die fortgeht, mit einem Bündel. Aber wohin? Bin ich
vielleicht nicht normal? Ist das vielleicht alles meine Schuld? Wenn man seinen
Vater liebt, ihn für einen Gott hält...
    Nein, es ist nicht meine Schuld. Sie
glaubt mir, die schwarze Puppe.
    Meine Schwester hat andere Puppen, sie
ist geschützt, all das wird ihr nicht

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