Ich weiß, ich war's (German Edition)
vorsätzlich, als Narziss, dahinter aber ganz klar als Einzelperson erkennbar: peinlich, schamlos, die reine Angst. Das klingt einfach, aber das ist natürlich nicht einfach. Die Differenz zwischen Sehen und Sprechen markiert die Scheidelinie, an der die narzisstische Falle aufspringt. Man kann nicht glauben, was man sieht, das ist viel zu unglaublich. Der Glaube kommt vom Hören, sagt Paulus; vom Hören, vom Sprechen und vor allem vom Sich-Versprechen. Kein Glaube ohne die Einübung in Verfahren, sich zu versprechen. Ich verspreche dir, dass es jenseits des Sichtbaren etwas zu hören gibt. Aber wie macht man einen Versprecher?«
Ja, wie macht man einen Versprecher? Das muss ich natürlich selber herauskriegen, doch es gibt eine Spur in meinem Buch, die ich in meinem Narzissmus ignoriert habe, obwohl ich sie nur zu genau kenne. Ich muss also herauskriegen, warum ich meine Frau eigentlich wegschicken wollte, warum sie nicht gegangen ist, warum ihr Auge dageblieben ist und warum wir uns dann versprochen haben. In dem Moment habe ich mich jemandem geöffnet, obwohl ich nicht weiß, was es ist, obwohl ich nicht weiß, wieso und ob es etwas bringt. Ich habe also den Materialismus über Bord geworfen, vielleicht sogar auch den Idealismus. Ich wusste in diesem Moment überhaupt nicht, was zählt. Und dieser Moment war das tausendfach Tollste – weil man nicht aus Kausalzusammenhängen handelt, weil man nicht wissen will, was dabei hinten rauskommt, wo der Effekt ist.
Das Unsichtbare sichtbar machen
Das Sichtbare unsichtbar machen und das Unsichtbare sichtbar – das war ganz klar der Effekt, den die Partei haben sollte: »›Chance 2000‹ ist das modernste Netzwerk Deutschlands. Wir versuchen, unsichtbare Menschen wieder sichtbar zu machen, sechs Millionen Arbeitslosen wieder einen Schwung nach vorne zu geben. ›Chance 2000‹ – das ist die Selbstbewusstseinsmaschine von heute« – das war einer unser Wahlkampfspots.
Bei uns glaubt ja fast jeder, er hätte das Monopol auf die Wahrheit, er sähe das eine wahre, richtige Bild – das habe ich nie geglaubt. Ich habe immer gedacht, dass die Gesellschaft, die wir sehen, gar nicht die Gesellschaft ist, die tatsächlich anwesend ist. Dass die, die sichtbar sind, nur die Leute sind, die etwas darstellen, im buchstäblichen Sinne, die sich permanent inszenieren, um zu beweisen, dass es sie gibt. Das Problem ist nicht unbedingt die Inszenierung. Das Problem ist, dass nicht alle die Chance dazu haben, dass nicht alle die Flächen zur Verfügung haben, um sich selbst auf die Bühne und ins Leben zu bringen. Das hieß 1998, nach 16 Jahren Helmut Kohl: Sechs Millionen Arbeitslose stehen unsichtbar hinter der Plakatwand. Und wo ist Helmut Kohl? Natürlich dick und fett auf der Plakatwand, überall und für alle sichtbar.
Da habe ich überlegt, wie man die sechs Millionen hinter dem Plakat sichtbar machen kann. Und zwar nicht abstrakt, sondern ganz konkret. So kam die Idee auf, eine Partei zu gründen, eine Partei, die die Arbeitslosen und andere von der Gesellschaft Abgedrängte anspornen wollte, sich sichtbar zu machen: »Beweise, dass es dich gibt!« war einer unserer Slogans. Und unser Motto hieß: »Wähle Dich selbst!« Das war ein Aufruf zur Direktkandidatur fürs Parlament, aber auch ein Appell, selbstbewusster zu sein und zu handeln. Eben eine Partei als Selbstbewusstseinsmaschine, Scheitern inbegriffen.
Viele Mitglieder und Kandidaten waren Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Obdachlose, auch Behinderte haben mitgemacht. Der Wunsch, diese Menschen zu mobilisieren, war völlig ernst gemeint. Weil ich der Überzeugung bin, dass gerade die Gescheiterten Erkenntnisse besitzen. Diese Leute wissen, wie es sich anfühlt, wenn eine Katastrophe eintritt, weil sie selbst mittendrin stecken. Wir wollen Katastrophen ja nur aus der Distanz betrachten, bloß nicht selbst das Problem werden. Dabei trägt man auch einen Reichtum in sich, wenn man an der Katastrophe beteiligt ist, eine Währung, die in unserer Gesellschaft partout niemand wahrnehmen will.
Chance 2000 war keine Spaßpartei – auch wenn wir natürlich eine gewisse Art von Humor vertraten und oft ziemlich viel Spaß hatten. Wir hatten auch tatsächlich ein paar Direktkandidaten, also Leute, die sich selbst gewählt haben. Kann übrigens jeder machen – nur so als Tipp für die nächste Bundestagswahl. Wenn man dann endgültig nicht mehr weiß, wen man wählen soll, kann man sich einfach selbst auf den Wahlzettel
Weitere Kostenlose Bücher