Ich weiß, ich war's (German Edition)
irgendwann bei dem ganzen Ding der Punkt erreicht, wo nur noch ich vorne stand. Wenn ich gesagt habe: »Wir gehen baden!«, dann haben zwar alle geschrien: »Au fein, wir gehen baden, super, super« – aber gekommen sind eben nur 600. Ist ja ein bekanntes Phänomen: Wir wollen doch lieber im Sessel bleiben und einer soll’s mal machen. Da war ich schon manchmal ziemlich wütend. Auf der anderen Seite: Wenn am Wolfgangsee wirklich 100 000 Leute aufgetaucht wären oder gar eine Million – da wäre ja der Horror im Kopf ausgebrochen.
Einmal hatte ich einen Auftritt beim Landesverband Baden-Württemberg in Freiburg, der Saal war voll von Studenten. Am Anfang war die Stimmung gut, ein junger, ziemlich alternativ aussehender Typ stand auf der Bühne, spielte Geige und sang merkwürdiges Zeugs. Keine Ahnung, was das sollte, aber mir war’s egal. Als ich meine Rede hielt – »Wählt euch selbst! Ihr müsst das selbst machen! Handelt!« –, hörte der Typ aber einfach nicht auf. Ich habe ihn immer wieder weggeschickt, aber er kam jedes Mal wieder von der Seite angepirscht mit seiner bescheuerten Geige. Immer aggressiver bin ich geworden und irgendwann habe ich angefangen, gegen all die Studenten im Publikum zu agitieren. Die Partei sei garantiert nix für Schlappschwänze, da müsse man schon härtere Töne anschlagen, wenn man was verändern wolle. »Ihr stinkt doch alle, ihr seid doch Scheiß-Studenten und liegt uns alle auf der Tasche. Arbeitslose sichtbar machen – das schafft ihr sowieso nicht, weil ihr die nächsten Unsichtbaren in dieser Gesellschaft sein werdet, wenn ihr den Arsch nicht hochkriegt«, habe ich die Leute angebrüllt. Eine Zeit lang hielten sich Buhs und Bravos die Waage, aber irgendwann kippte die Stimmung und einer schrie zurück: »Ey, mach doch selbst, du Arschloch!« Tosender Applaus, der Abend war beendet, der Landesvorsitzende zog beleidigt ab – nur der Typ mit der Geige machte einfach weiter.
Der Einzige, der danach auf mich zukam, war Klaus Theweleit. Er war völlig aus dem Häuschen und gratulierte mir: »Das war super, das ist so wichtig, dass diese jungen Blagen mal kapieren, dass es keinen Führer mehr gibt. Gerade bei den Alternativen muss es mit dem Führerglauben endlich mal ein Ende haben. Das war brillant, wie Sie das vorgespielt haben.« Dabei hatte ich gar nichts vorgespielt, das war in dem Moment mein voller Ernst und meine tiefe Überzeugung.
Ich kann mich auch noch gut an den Auftritt beim bayerischen Landesverband erinnern. Eigentlich lief alles super, meine Rede in irgendeinem Münchner Uni-Hörsaal war okay, keiner hörte zu, alle redeten durcheinander und hatten Spaß. Aber als ich von der Bühne runterkam, stürmte ein Mädchen auf mich zu, das ganze Gesicht gepierct, richtige Nägel waren das, eine Sicherheitsnadel in der Nase, irgendwo auch ein Hakenkreuz, glaube ich – wirklich bestialisch sah sie aus. Sie stürmte also auf mich zu, packte meinen Kopf jedenfalls – und plötzlich steckte ihre Zunge in meinem Mund. Ich war völlig perplex und habe eine gefühlte Ewigkeit gebraucht, sie wegzudrücken.
Am nächsten Tag sah man auf der Internet-Seite der APPD, der Anarchistischen Pogo-Partei Deutschlands, ein Foto von mir und diesem Mädchen. Unter dem Foto stand: »Parteivorsitzender von Chance 2000 umarmt Parteivorsitzende der APPD und wird von ihr zum Minister für Volksverdummung ernannt«. So vereinnahmt man eben Leute für seine Sache. Das war schon genial, das muss ich zugeben – auch wenn ich das Mädchen und diese ganze Partei widerlich fand und wir echte Probleme mit denen hatten, weil sie immer wieder bei unseren Aktionen auftauchten und sich an uns dranhängten. Auch beim Baden im Wolfgangsee. Am Seeufer hatten sie einen kleinen abgezirkelten Bereich als Demonstrationsfläche genehmigt bekommen, und da fand dann öffentliches Ficken statt. Die waren wirklich splitternackt und haben’s miteinander getrieben. Wir wollten mit diesen Leuten nichts zu tun haben, weil wir’s ernst meinten, weil wir Stimmen haben wollten, und die bekommt man ja nicht, wenn dann im Stern irgendwelche rammelnden Leute zu sehen sind. Aber glücklicherweise hat sich keiner für die interessiert.
Irgendwann ist dann alles den Bach runtergegangen. Nicht nur, weil die Leute lieber zu Hause blieben und die Medien alles unter dem Politclown Schlingensief absorbierten, sondern auch, weil wir nicht genug Spendengelder bekamen. Während des Landesparteitags in Leipzig bekam ich
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