Ich weiß, ich war's (German Edition)
Team rechts und links an meiner Seite. Und Wolfgang und ich haben vor lauter Glück, dass kein Intrigant mehr am Tisch saß, sondern plötzlich so ein kleiner Frieden eintrat, unzählige dieser Toastdinger in uns reingestopft. Es brach sozusagen ein großer gemeinsamer Hunger aus. Ein Hochgenuss, bis Gudrun dann irgendwann sagte: »Wolfgang, du bist mal wieder dein bester Gast!«, und da hörte Wolfang Wagner auf zu essen, wischte sich den Mund ab, stand auf, deutete mir an, dass er mich vorne an der Türe sehen wolle. Ich folgte ihm und dort, bei geöffneter Türe wohlgemerkt, sagte er zu mir: »Gell, das war schon toll! Das war eine tolle Sache mit uns. Wir waren doch immer Freunde, nicht wahr?« Und da habe ich »Ja, Herr Wagner« gemurmelt und musste fast heulen. Wir haben uns sogar kurz in den Arm genommen. Kurz, aber herzlich, und ich bin dann wie benommen davongegangen. Ob die anderen noch weitergegessen haben, weiß ich nicht mehr. Und ich rufe dem alten Herren zu: AUF WIEDERSEHEN! Das ist für alle Menschen die größte Drohung, die man aussprechen kann. Und in diesem Falle wäre es sogar eine sehr schöne Drohung, auch wenn die Hofschranzen daraus wieder etwas Böses lesen wollen. Ich mag Bayreuth und ich bin sehr gespannt, was daraus werden wird. Auch wenn die Zeichen momentan eher auf Keksdose stehen.
(22. März 2010, Schlingenblog auf www.schlingensief.com )
Bayreuth war trotz der ganzen Probleme eine echte Befreiung. Der Animatograph mit der Drehbühne, auf der man rumlaufen konnte, war so was wie eine Umarmung, ein »Alle-nehmen-teil«-Prozess, die Leute, der Film, die Oper, die Musik usw. Raus aus dem Theaterbunker, rein in den Keller oder den Bunker, nur mit dem Unterschied, dass der dann echt war und irgendwo in der Gegend stand – in Island, in Neuhardenberg oder eben in Namibia. Das hatte ganz viel damit zu tun, wie ich früher Filme gemacht habe. Bei »Menu Total« mit Alfred Edel und Helge Schneider war das eine alte Thyssen-Villa im Ruhrgebiet. Alles roch nach Erde und Kohle. Der Dreh war wie eine Expedition. Bei »Egomania« war es eine Hallig in der Nordsee, bei »100 Jahre Adolf Hitler« ein Kriegsbunker in Mülheim an der Ruhr.
Bayreuth war also der Vorabend, die Ursuppe, danach konnte sich die Verwandlung »Zum Raum wird hier die Zeit« nicht mehr im geschlossenen Theaterraum vollziehen. Das war schon klar. In Island und Neuhardenberg oder Afrika war der Animatograph als Organismus den kosmischen Strahlungen ausgeliefert. Danach war er so aufgeladen, dass er auch wieder ins Burgtheater gehen konnte. Die Befreiung vom Theater musste ins Theater zurück. In Wien kam zum Beispiel ein älteres Pärchen rein, das waren wohl Abonnenten. Die kamen also zur ersten Veranstaltung in den Zuschauerraum und bestanden darauf, dass der Platzanweiser sie zu ihren Stammplätzen führen soll. Nur waren die Sitze leider ausgebaut, weil der Animatograph ja auch im Zuschauerraum stand. Der hatte sich da reingefressen.
Ich wollte das Publikum auf der Bühne haben. Das war schon vorher so, bei »Schlacht um Europa« oder »Rocky Dutschke«. In Island hatten wir einen Raum, in dem sich die Leute wie in einem Labyrinth anderthalb Stunden Bildern und Tönen ausgesetzt haben. Am schönsten war es dann, wenn man alleine drinsaß. Man war Bestandteil des Unternehmens. Das ist die Formel, die da drinsteckt und die jeder für sich errechnet. Man betritt die Drehbühne und wird durch die Masse an Eindrücken aufgeladen. Man wird zu seinem eigenen Dokumentationszentrum. Das ist die funktionstüchtigste Waffe, die wir heute haben: das Dokumentieren, das Gedächtnis. Gedächtnis einschalten ist immer o. k., aber auch wahnsinnig schwierig.
Der Animatograph ist ein Lebewesen, ein Organismus, der durch die Kräfte, die in ihm wirken, bestimmt, ob er sich noch weiter aufladen will. Er legt Wert darauf, dass er den Ort vertritt, an dem er entsteht. Und den Ort der vorherigen Station bringt er mit, um zu sagen: »Das ist mein Gedächtnis.«
»Die Umgebung wird zum Werk und das Werk zur Umgebung« ist der Satz zum Animatographen, ein Satz von Dieter Roth. Das würde ich mir für meine Arbeit auch wünschen: dass die Leute das nicht als Kriegserklärung ansehen oder als Größenwahn, sondern dass sie merken, dass das alles Versuchsordnungen sind, in der Hoffnung, dass man Gemeinsamkeiten hat.
»Church of Fear«. »Erster Internationaler Pfahlsitzwettbewerb« auf der Biennale Venedig, Juni 2003
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