Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch
schmierte ich mir schnell ein Käsebrot und nahm mir eine Flasche Wasser aus der Kiste.
Da fiel mein Blick auf unseren Messer-Block. Mit Herzklopfen zog ich eines der kürzeren Messer heraus und betrachtete es. Es war sehr spitz und sah ziemlich scharf aus. Mein Herz raste. Damit könnte ich mich im Notfall sicher verteidigen. Ich versteckte es, so gut es ging, zwischen Arm und Körper und rannte die Treppe hinauf, um das Messer hinter meinem Bett zu verstecken. Wenn er heute Nacht käme, würde ich mich wehren, nahm ich mir vor. Immer wieder sagte ich es vor mich hin.
Aber er kam nicht. Und am nächsten Tag trug ich das Messer heimlich wieder zurück in die Küche. Ich würde mich eh nicht trauen, es hinter meinem Bett hervorzuziehen, wenn er mich bedrängte. Ich würde es mich einfach nicht trauen. Und selbst wenn ich es täte, wäre er sicher so wütend, dass er mich kurzerhand abstechen würde. Schließlich hat er viel mehr Kraft als ich und bestimmt auch weniger Skrupel, da war ich mir sicher.
Resigniert ging ich zurück in mein Zimmer. Unsere einzige Chance wäre, wenn er mit dem Lkw einen schlimmen Unfall bauen würde, wenn er einfach nicht mehr von einer Fahrt zurückkäme, dachte ich und begann, mir das aus ganzem Herzen zu wünschen. Nur wenn er tot wäre, könnten mein Bruder, ich und auch meine Mutter wieder ein normales Leben führen. Einen anderen Ausweg sah ich nicht. Denn offensichtlich schaffte es meine Mutter nicht, sich von diesem Mann zu trennen. Warum auch immer. Sie war wie abhängig.
Krause: »Weißt du denn, wie es ihr jetzt zu Hause ergeht im Zusammenleben mit ihm?«
Ich: »Scheiße. Einmal hat sie mich mitten in der Nacht völlig fertig angerufen und gesagt, dass es so nicht mehr geht und er sie irgendwann umbringen wird. Und ich ihr helfen soll. Ihr war es ganz wichtig, dass erst mal die Tiere – ihr Hund und ihre Katzen – versorgt sind und irgendwo untergebracht werden. Ich hab mich um alles gekümmert und war so froh, dass sie es endlich eingesehen hat. Wollte sie am nächsten Tag abholen, ins Frauenhaus bringen und dann die Polizei informieren. Und was ist? Am nächsten Tag sagt sie, ich solle sie gefälligst in Ruhe lassen, es wäre schließlich ihr Leben.«
Krause:»Hast du dann trotzdem was unternommen?«
Ich: »Nein. Ich hab ewig hin und her überlegt, ob ich trotzdem zur Polizei gehen soll. Aber mit Garantie hätte sie dann alles abgestritten und ich weiß nicht, was dann passiert wäre.«
Auszug aus dem Vernehmungsprotokoll, 8. Juli 2011, 14:40 Uhr
Ich mustere Kriminalkommissar Krause. Zum ersten Mal habe ich das sichere Gefühl, dass er mich nicht versteht. »Sie verstehen das nicht mit meiner Mutter, stimmt's?«, frage ich deshalb direkt. Er sieht mich ernst an. »Ich finde es traurig«, sagt er schließlich vorsichtig. Ich nicke. Traurig finde ich es auch. Aber ich glaube, dass Mama sich nicht anders verhalten kann. Das sage ich ihm auch: »Sie traut sich einfach nicht mehr, sich aufzulehnen. Dafür hat er sie schon zu kaputt gemacht.«
Mir fällt unser letztes Treffen am 16. Juni ein, einen Tag, bevor ich zum ersten Mal in diesem Verhörzimmer gelandet bin. Damals wollte ich meine Mutter besuchen. Obwohl es ihr egal zu sein schien, bemühte ich mich, den Kontakt nicht komplett abbrechen zu lassen. Am Telefon hatte sie mir versichert, dass mein Stiefvater nicht zu Hause sein würde. »Ich komme gerade vom Einkaufen und er ist nicht da. Du kannst schon kommen«, nuschelte sie in den Hörer.
»Okay, dann bin ich gegen vier bei dir«, versprach ich und legte auf. Als ich mit meinem Auto auf die Einfahrt fuhr, wies nichts darauf hin, dass mein Stiefvater zu Hause sein würde. Kein Auto, nichts, was mich gewarnt hätte. Glücklicherweise gelang es mir seit meinem Auszug recht erfolgreich, ihm aus dem Weg zu gehen. Aber als ich kurz darauf die Küche betrat, saß er da – und es war, als würde mir jemand die Luft abdrehen: »Ah, die Frau mit dem Alabaster-Körper«, knurrte er und lächelte hässlich. Ich war in Schockstarre. Obwohl er mich seit meinem Auszug nie wieder missbraucht hatte, spürte ich jedes Mal Panik, wenn ich ihn sah. Ich ignorierte ihn, so gut es ging, und fragte Mama, wie es ihr ging. »Ach, mein Kreislauf macht mir zu schaffen«, jammerte sie und torkelte hinüber zum Küchentisch. Durch den Alkohol wurde sie immer dünner und klappriger. Sie sah schlimm aus. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Die Situation war unangenehm und die Stimmung
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