Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch
nicht mehr diesen Escort-Kram mache. Aber seit dieser ganze Wahnsinn mit der Anzeige begonnen hat, passiert es mir manchmal wieder mehrmals pro Woche. Allerdings meistens nicht so heftig wie heute. Mein Bein schmerzt. Wahrscheinlich werde ich schon deshalb nicht einschlafen können. Ich brauche noch mehr Wein. Und wieder ein Schmerz in der Magengegend. Diesmal denke ich an meine Mutter. Ich möchte nicht so enden wie sie. Aber ich habe solche Panik davor, wach im Bett zu liegen, nicht einschlafen zu können – denn dann kommen all diese schlimmen Bilder. Am besten, ich gehe zum Hausarzt und lasse mir ein Schlafmittel verschreiben. Gleich morgen. Also darf ich es heute noch mit Wein versuchen …
Und während ich dasitze und mein Risotto esse, kommen mir wieder die vielen bösen, zermürbenden Gedanken. Ich frage mich, was aus uns geworden wäre, wenn mein Vater nicht krank geworden wäre. Wäre meine Mutter dann Alkoholikerin? Mein Bruder essgestört? Ich ein Narben-Monster? Hätte? Könnte? Müsste? Es sind unsinnige Gedanken! Es ist, wie es ist. Und momentan ist es so, dass ich am nächsten Morgen wieder in das große Polizeigebäude muss, um zum vierten Mal die Fragen von Kriminalkommissar Krause zu beantworten.
Mein Anwalt Herr Rabe erwartet mich wie gewohnt im Foyer und streckt mir zur Begrüßung seine schlappe Hand entgegen. Erfreulicherweise versucht er es nicht wieder mit lahmem Smalltalk, sondern lässt mich einfach in Ruhe. Wie selbstverständlich betreten wir das Vernehmungszimmer und nehmen auf unseren üblichen Stühlen Platz. Martin Krause beginnt ohne Umschweife mit der Befragung.
Krause:»Gab es damals eigentlich niemanden in deinem Umfeld oder Freundeskreis, dem etwas aufgefallen ist?«
Ich: »Doch, schon. Meine eine Klassenlehrerin damals hat mich immer mal wieder angesprochen, ob alles in Ordnung sei.«
Krause: »Und was hast du geantwortet? Beziehungsweise was hat sie gesagt, warum sie überhaupt auf dich zugekommen ist?«
Ich: »Sie meinte halt, dass sie sich Sorgen macht. Ich sei oft so abwesend, blass und wirke immer völlig in Gedanken versunken. Hab auch oft keinen Sport mitgemacht, also eigentlich nie. Das fällt natürlich irgendwann auf.«
Krause: »Und wie hast du dann reagiert?«
Ich: »Ich hab erst immer gesagt, dass alles gut ist. Aber sie war da wirklich hartnäckig. Irgendwann hab ich ihr was gesagt.«
Krause: »Kannst du dich noch daran erinnern, was du gesagt hast?«
Ich: »Ja. Ich war völlig fertig. Ich hab dann nur gesagt, dass ich mit meinem Stiefvater ins Bett muss. Völlig bescheuert. Aber mir fehlten völlig die Worte.«
Auszug aus dem Vernehmungsprotokoll, 15. Juli 2011, 10 Uhr
Eigentlich wollte ich damals gar nichts sagen. Zu groß war meine Scham und die Angst, dass meiner Mutter dann etwas zustoßen könnte – schließlich hatte er es oft genug angedroht und ich hatte nie daran gezweifelt, dass er es auch tun würde. Aber irgendwie hatte meine Lehrerin Frau Schiller anscheinend den richtigen Moment erwischt. Ich glaube, das war, nachdem mein Stiefvater mal wieder besonders brutal vorgegangen war – etwa ein halbes Jahr, nachdem die Übergriffe begonnen hatten. Ich war also dreizehneinhalb. Zu diesem Zeitpunkt waren seine Übergriffe schon unglaublich brutal. Und nach genau so einem Vorfall fing mich meine Lehrerin erneut vor der Klasse ab: »Komm bitte mal mit mir ins Besprechungszimmer.«
Ich fühlte mich sofort unwohl. Seit den Weihnachtsferien waren meine Noten in den Keller gerutscht. War ich früher eine fleißige, ehrgeizige und überengagierte Schülerin gewesen, zog ich mich seit dem ersten Übergriff komplett zurück. Ich nahm nicht mehr am Unterricht teil, verweigerte mich bei Klassenarbeiten, schwänzte. Meine Lehrerin hätte blind und taub sein müssen, um diesen Hilferuf nicht wahrzunehmen. Aber trotzdem war es irgendwie nur ein halbherziger Hilferuf. Ich wollte unbewusst zeigen, wie kaputt ich gemacht wurde, traute mich aber nicht, tatsächlich dagegen anzugehen. Wie hätte ich es auch sagen sollen?
Mir war kotzübel und mein Herz schlug bis zum Hals, als ich den kleinen Raum gegenüber des Schulleiter-Büros betrat. Dort standen ein Tisch und zwei Stühle. Wir setzten uns. »Anna, was ist denn los mit dir?«, fing meine Lehrerin an und sah mir mit ihren schönen blauen Augen direkt ins Gesicht. Sie war noch recht jung, sehr freundlich und bei allen beliebt. Ich drehte meinen Kopf demonstrativ zur Seite, um die langweilige weiße Wand
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