Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch
machbar! Hauptsache, ich konnte weiter reiten!
Als wir dann wenig später mit einem Möbelwagen vor dem neuen Haus vorfuhren, war mein Bruder vor allem entsetzt, wie schäbig es aussah im Vergleich zu dem schönen Haus, in dem wir bislang gelebt hatten. »Auweia!«, brummte er, als ich mich an ihm vorbeizwängte, um mein Fahrrad aus dem Wagen zu zerren. Ich zuckte mit den Schultern. Mich interessierte das nicht so sehr. Anstatt Kisten auszupacken und mein Zimmer einzurichten, setzte ich mich zuerst auf mein Fahrrad, um zum Stall zu fahren. Erst über Landstraßen, dann auf die Fähre, zuletzt den Berg hoch – das war zwar anstrengend, aber ich hatte es geschafft! Glücklich stürzte ich mich in die Stallarbeit und freute mich anschließend auf mein Training …
Leider fuhren die Schulbusse sehr ungünstig. Das hatte meine Mutter sich wohl nicht so genau angesehen, als sie das Haus ausgesucht hatte … Morgens ging der Bus um halb sieben, dann musste ich mindestens eine halbe Stunde vor der Schule herumlungern, bis ich hineindurfte. Und nach der Schule fuhr der Bus nur am Mittag und auch nur in den nächstgrößeren Ort. Das heißt, von dort musste ich abgeholt werden. Wenn ich allerdings länger Schule hatte, kam ich gar nicht mehr weg. Also blieb mir auch für den Schulweg nur das Rad. Das hatte den Vorteil, dass ich dann gleich von dort aus in den Stall fahren konnte.
Das neue Gymnasium war eigentlich ganz nett. Die Mitschüler nahmen mich freundlich auf, es erwarteten mich keine schlimmen Lästerzicken in der Klasse und die Lehrer waren verhältnismäßig jung und engagiert. Ich war zwar nicht gerade das angesagteste Mädchen der Klasse, aber durchaus beliebt. Die Mädchen lachten über meine Schlagfertigkeit und die Jungen darüber, dass ich ganz schön frech sein konnte. Frech, ohne unverschämt zu sein. Wenn die Lehrer mahnend die Augenbrauen hoben, konnte ich so nett lachen, dass mir keiner etwas übel nahm. Außerdem hatte ich super Noten und Spaß im Unterricht.
Die Mädchen hatten zu dieser Zeit nur noch ein Thema: Jungs. Und sogar die interessierten sich mit zwölf Jahren plötzlich nicht mehr nur für Fußball, sondern auch für uns. Aber während meine Klassenkameradinnen vor allem Ausschau nach Jungs ab der neunten Klasse hielten und da vorzugsweise nach denen, die schon Mofas besaßen, schielte ich rüber zu Robert. Er war in meiner Klasse und saß in der ersten Reihe, weil er immer ein wenig vorlaut war und die Lehrer ihn deshalb besonders im Auge behalten wollten. Ich glaube, nicht nur aus meiner Sicht, sondern auch objektiv war er der süßeste Junge in der Klasse. Er hatte dunkle Wuschelhaare, gebräunte Haut, war der Beste in Sport und hatte das schönste schiefe Lächeln, das ich mir vorstellen konnte. Manchmal kam es mir so vor, als würde er mich ebenfalls häufiger anschauen. Ich versuchte, mein Rad immer in der Nähe von Roberts Mountainbike abzustellen. Das war aufregend! Ich bekam schon Herzklopfen, wenn ich in die Nähe seines Fahrrads kam. Manchmal grinste ich, wenn ich nur an ihn dachte. Meinen Klassenkameradinnen erzählte ich nichts von meiner Schwärmerei, aber meine Freundinnen im Reitstall wussten genau Bescheid und mussten sich beim Stallmisten immer anhören, wie großartig Robert war.
An einem sommerlichen Tag im September hantierte er noch an seinem Fahrrad, als ich dazukam. Mein Herz raste vor Aufregung und ich konnte spüren, wie ich rot im Gesicht wurde. Das war wirklich peinlich. Ich versuchte, mir kalte Luft ins Gesicht zu pusten, um mich ein wenig abzukühlen. Robert drehte sich zu mir um und lächelte mich an. Ich glühte zurück und traute mich kaum, ihn anzusehen, weil ich mich so sehr für mein rotes Gesicht schämte.
»Fährst du nach Hause?«, wollte er wissen.
»Nein, in den Stall«, gab ich zur Antwort und beugte mich ganz tief zu meinem Schloss herab, um meine Gesichtsfärbung zu verstecken.
»Wo liegt denn der Stall?«, hakte Robert nach.
»In Bonn«, murmelte ich zurück, noch immer mit dem Kopf nach unten.
»Hast du etwas dagegen, wenn ich ein Stück mitfahre?« Innerlich schrie ich »Hurra!«, nach außen drang nur ein leises »Gerne«. Und ich war so aufgeregt, dass ich nun noch mehr Hitze in meinem Gesicht spürte, was ein sicheres Zeichen für noch mehr rote Farbe war. Erst seine Frage, ob ich Hilfe mit dem Schloss bräuchte, ließ mich wieder klarer denken. Ich konnte mich schließlich nicht ewig hinter meinem Fahrrad verstecken. Als er mich
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