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Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch

Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch

Titel: Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - mein Leben nach dem Missbrauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arena
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angespannt.
    »Weißt du, ich muss auch gleich weiter«, schwindelte ich deshalb. Keine Sekunde länger wollte ich mit meinem Stiefvater verbringen. Ich wollte mich gerade von meiner Mutter verabschieden, als zwischen ihr und meinem Stiefvater ein Streit eskalierte.
    Die beiden hatten anscheinend schon vor meiner Ankunft über dieses Thema gestritten. Offensichtlich war meine Mutter beim Einkaufen mal kurz nicht ans Telefon gegangen. Kein Wunder. Er rief ja auch im Minutentakt an, um sie zu kontrollieren. »Was hast du gemacht, will ich endlich wissen!«, seine Stimme klang scharf.
    »Ni-ichts«, beteuerte meine Mutter. Mein Stiefvater kniff die Augen zusammen: »Pass mal auf, ich bin nicht nach Hause gekommen, um mir so eine Scheiße anzuhören! Du sagst mir jetzt, wo du warst!«
    »Beim Ein…kau-fen.« Mama lallte. Ich konnte mich nicht losreißen. Diese Situation kannte ich. Ich wusste genau, was gleich passieren würde, schließlich hatte ich es schon Hunderte Male erlebt. Ich kannte seinen Blick, jede Regung, es war, als ob ich es riechen könnte: Gleich würde er ausrasten. Und tatsächlich. Plötzlich sprang er auf. Der Stuhl kippte um. Es krachte. Mein Stiefvater brüllte: »Das kannst du mit mir nicht machen!« Und dann prügelte er auf meine Mutter ein. Er schlug hin, wo er sie erwischen konnte. Sie wollte davonkriechen, aber er hielt sie fest. Meine Mutter schrie. Und er schlug zu. Ich stürzte mich zwischen sie, wollte meiner Mutter helfen. Da ließ er sofort von ihr ab und schlug auf mich ein. Meine Mutter kämpfte sich zurück auf den Küchenstuhl und wartete ab, dass er wieder von mir abließ. Sie sah einfach zu, wie mein Stiefvater mich verprügelte. Erst als ich regungslos am Boden lag, alles blutverschmiert war, ließ er mich in Ruhe und ging aus dem Zimmer. Ich wartete noch eine Weile, dann stand ich auf, wusch mir das Blut ab und ging zu meinem Auto. Und am nächsten Tag bat mich dann mein Ausbildungsleiter zum Gespräch.

5. Vierte Vernehmung
    »Nach massivem sexuellem Missbrauch kommt es häufig zu starken Bindungsstörungen. Die Opfer haben eine sehr negative Intimität erlebt, eine erzwungene Nähe, die zu einem Trauma führen kann. Die Folgen sind dramatisch: belastende Erinnerungsbilder, Schlafstörungen, Essstörungen. Ihr grundlegendes Sicherheitsgefühl wurde so massiv erschüttert, dass die Opfer oft den Glauben an die Welt und die Menschen verlieren. Je schwerer die Traumatisierungen, desto schwerer ist der Weg zurück in ein normales Leben.«
    Christian Luedke, Psychotherapeut
    I ch habe es schon wieder getan. Diesmal am anderen Oberschenkel. Angeekelt starre ich auf die dicke hässliche Wunde. Neben mir auf dem Sofa liegt das blutige Verbandszeug aus der Klinik. Ich habe es abgewickelt und die Pflaster von der Haut gerissen, weil ich sehen will, was ich da schon wieder angestellt habe. Ich hasse es so sehr! Warum mache ich das? Ich weiß doch, dass es nicht gut ist. Mein Blick wandert über meine Beine mit den unzähligen Narben. Manche sind nur noch schmale weiße Streifen, andere sind rosa und wulstig, insgesamt ein abstoßender Anblick.
    Ich schüttele über mich selbst den Kopf: Ich tue es immer wieder, habe es überhaupt nicht im Griff. An manchen Tagen ist es mir sogar total egal, wenn die Leute meine Narben sehen. Sollen sie doch gucken! Sollen sie doch denken, was sie wollen! Was für ein kaputter Mensch ich bin – oder was auch immer.
    An anderen Tagen will ich diesen Teil von mir verstecken. Da möchte ich nicht zeigen, wie zerstört ich bin. Da möchte ich so gesund und leicht aussehen wie alle anderen Frauen in meinem Alter. Und an diesen Tagen ärgere ich mich dann besonders, dass die Kollegen bei der Arbeit wissen, dass ich dieses Selbstverletzungs-Problem habe. Im Büro will ich doch zeigen, dass ich alles im Griff habe. Oder noch viel schlimmer: Da will ich immer zeigen, dass ich die Beste bin. Wie in der Schule. Wie beim Reiten. Immer die Beste sein! Dann bin ich ausdauernd, ehrgeizig und diszipliniert und kann es schwer ertragen, wenn jemand anderes besser ist. Es ist bescheuert und fast ein wenig peinlich. Aber schon in der Schule konnte ich es nicht ab, wenn ein anderer bei irgendetwas besser war.
    Deshalb ärgere ich mich doppelt, dass ich mit dem Selbstverletzen nicht aufhören kann. Andere Sachen schaffe ich doch auch, bin konsequent und kontrolliert. Nur diese Selbstverletzerei macht sich immer wieder selbstständig. Ich verstehe das nicht! Das ist wirklich

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