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Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Titel: Ich werde immer da sein, wo du auch bist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Lacour
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brüllte Amanda zurück.
Toll, was!?
    Ich nickte. Ich wollte sagen:
Ich liebe sie
, aber das kam mir zu banal vor.
    Amanda legte die CD zurück in ihre Hülle und gab sie mir.
Da
, sagte sie.
Sie gehört dir.
     
    Zwei Stunden später ist mein Aufsatz fertig. Durch das Autofenster sehe ich, dass im Haus kein Licht mehr brennt. Meine Eltern schlafen bestimmt schon. Wahrscheinlich haben sie sich daran gewöhnt, dass ich hier draußen bin. Auf dem Weg ins Haus gehe ich noch kurz an dem Holzstapel vorbei und lasse meine Hände über das oberste Brett gleiten.

16
    Heute Morgen wache ich vor meinem Wecker auf, drehe mich um und stelle ihn aus. Es hat ewig lange gedauert, bis ich gestern eingeschlafen war. Ich musste ständig an diesen Abend denken. Danach war Ingrid noch monatelang am Leben, aber nie richtig wach. Sie hat immer noch in ihr Tagebuch geschrieben und hing mit mir ab und hat manchmal gelacht und so, aber wenn ich jetzt zurückblicke, dann weiß ich, dass sie auf Autopilot lief. So wie man sich die Zähne putzt oder frühstückt. Du denkst nicht richtig darüber nach, deine Gedanken sind ganz woanders. Ich hole Ingrids Tagebuch hervor und finde, dass ich mir ein bisschen Ingrid verdient habe, denn es ist erst Viertel vor sieben und schon jetzt ein mieser Tag. Aber als ich das Heft aufschlage, wird alles nur noch schlimmer.
    Liebe Veena,
     
    das ist ein Dankesbrief. Gestern habe ich meine Kamera dabeigehabt und jede Menge Fotos geschossen – alles sah anders aus, und irgendwie fotografierten meine Augen noch vor der Kamera. Dann ließ ich alles in dem Schnellentwickler-Laden entwickeln, wo so ein verlotterter, süßer Typ mit mir flirtete und ›Deine Fotos sind echt super‹ sagte, und ich war so glücklich und wollte sie unbedingt sehen, deshalb hab ich mich bedankt und mir mein ›Das ist aber nicht okay, dass du dir meine Fotos angeschaut hast‹ verkniffen. Sie sind wirklich gut, besonders das mit dem zerbrochenen Glas und, na klar, auch das von meinem Spiegelbild im Schaufenster vom Musikladen vor all diesen grässlichen Postern von Teenie-Popstars mit Silikonbrüsten, die viel zu groß sind für ihre ausgemergelten Körper. Und mein Spiegelbild, ein echtes Mädchen mit einer Kamera.
    Veena, vielleicht könnte sich mein Leben wegen dir doch noch zum Guten wenden. Ich würde durch die Welt reisen und Tiere und fremde Völker fotografieren, GEO wird mich anheuern, und dann erlebe ich diese irren Abenteuer und wilden Sex mit Männern, die unbekannte Sprachen sprechen. Wir werden keinen Kontakt halten, weil meine Eltern sonst einen Herzkasper kriegen würden, und ich werde auf eine Kunstakademie in New York gehen statt auf ein College, und mit meinen Fotos berühmt werden, weil sie die Seelen der Nutten und Junkies und Straßenkinder einfangen, die Seelen der Obdachlosen, und in meiner Dankesrede für den Nobelpreis werde ich sagen, dass ›alles mit dir angefangen hat, Veena Delani. Ich verdanke alles dir‹. Und du wirst sehr gerührt sein und stolz.
     
    In Liebe
    Ingrid

17
    Natürlich schwänze ich heute den Fotografiekurs.
    Ich sitze auf dem Weg hinter den Wohnblöcken, schrecklich allein, und warte darauf, dass es zehn vor neun wird. Ich drehe den Gebäuden meinen Rücken zu und schaue den Hügel und die Bäume an.
    Ich zähle die Bäume.
    Bei jedem Baum denke ich an einen Fehler, den ich gemacht habe. Die dicke Eiche – ich habe niemandem erzählt, dass Ingrid sich ritzte. Die Eiche daneben – ich habe ihr gesagt, ich müsste kotzen, wenn ich mir noch mal das ganze Gequatsche über Jaysons Arme und sein blaues Hemd anhören müsste. Großer Baum mit nackten Ästen – ich ging einfach weg, wenn sie deprimiert war und nicht mehr redete. Ich hätte bei ihr bleiben sollen. Ich hätte still dasitzen sollen, damit sie wusste, dass ich bei ihr war. Pinie – ich habe an dem Nachmittag gelogen, als ich ihr sagte, ich hätte keine Lust, jeden Tag mit ihr abzuhängen, obwohl ich eigentlich bloß keinen Nagellack im Kaufhaus klauen wollte, weil ich mich so mies gefühlt hatte, als wir es das eine Mal gemacht hatten. Obwohl sie sich umdrehte und ging, hatte ich gesehen, dass sie kurz vorm Losheulen war. Das war der Tag, als sie dann mit Eyeliner und Haartönungsmittel im Rucksack erwischt wurde. Ich suche mir eine kleinere Pinie aus, weil ich mich nicht mit ihr hatte erwischen lassen.
    Die kleine Baumgruppe in der Ferne ist perfekt, um all die Male zu zählen, die ich sie beschimpft oder beleidigt habe.

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