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Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Titel: Ich werde immer da sein, wo du auch bist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Lacour
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jemals hatten. Sie merkte aber, dass es mir wichtig war, denn sie sah mich todernst an und kam mit. Deshalb hab ich sie so wahnsinnig gern. Deshalb wünschte ich, ich wäre ein besserer Mensch.
    Vielleicht lassen Sie es mir dieses einzige Mal durchgehen. Sie haben ein nettes Gesicht und einen beschissenen Job. Vielleicht haben Sie ein schweres Leben, und vielleicht warten Sie auch auf jemanden, der sich diesen ganzen Mist anhört. Falls Sie meine Eltern nicht anrufen, verspreche ich Ihnen, dass ich Sie nicht (wie die anderen) »Hammer« nennen werde, weil ich weiß, dass Sie gar nicht so hammerhart sind, und wenn ich Ihnen in den Fluren begegne, werde ich langsamer gehen, falls Sie gern mal reden möchten.
     
    Alles Liebe
    Ingrid
    Ich schlage das Buch zu.
    Mein Zimmer ist so still und leer, dass es weh tut.
    Eigentlich müsste ich weiterlesen wollen, aber ich kann nicht. Es ist unmöglich. Ich lege Ingrids Tagebuch in meine Kommode, aber nicht in die oberste Schublade, wo jeder Idiot seinen Kram versteckt, sondern unter irgendwelche Klamotten in eine der unteren Schubläden. Doch nach ein paar Minuten hole ich es wieder heraus. Dieser Platz ist irgendwie nicht gut. Also lege ich das Heft auf ein Bord in meinem begehbaren Kleiderschrank, den ich vor zwei Sommern lila gestrichen habe, und schiebe einen Schuhkarton mit Negativen davor.
    Ich stehe vor der geöffneten Schranktür und betrachte das Bord darin. Fast erwarte ich, dass sich der Deckel des Schuhkartons mit dem Atem des Tagebuchs hebt und senkt. Aber es ist nur ein Tagebuch. Es ist nicht lebendig.
    Mit mir stimmt was nicht.
     
    Eine Stunde später muss ich es berühren, um mich zu vergewissern, dass es noch dort liegt.
     
    Nach dem Mittagessen hole ich es wieder raus und lege es zurück unter mein Bett, wo es während der letzten drei Monate gelegen hat.
    Ich versuche, Hausaufgaben zu machen.
    Ich versuche fernzusehen.
    Aber ich kann ständig nur an Ingrids Tagebuch in meinem Zimmer denken: Ob es noch da ist, und was passiert, wenn jemand es findet, und warum ich es nicht lesen will, obwohl ich weiß, dass ich das tun muss.
     
    Am nächsten Morgen will ich aus meinem Zimmer gehen, aber ich kann nicht. Ich meine nicht
kann nicht
im Sinne von
will nicht
. Ich meine
kann nicht
, als wäre ich körperlich nicht imstande, das Zimmer ohne das Tagebuch zu verlassen. Deshalb suche ich in meinem Rucksack nach dem Innenfach mit Reißverschluss. Das Fach ist ziemlich klein, deshalb weiß ich nicht, ob es geht, aber ich hole Ingrids Tagebuch unter dem Bett hervor und schiebe es vorsichtig hinein. Es passt perfekt. Dort bleibt es, gut versteckt.
    Ich verschließe meinen Rucksack und hänge ihn mir über eine Schulter, dann auch über die andere. Das Tagebuch macht ihn schwerer, aber das Gewicht fühlt sich gut an.

14
    Aus MrRobertsons Stereoanlage hört man John Lennon und Paul McCartney immer wieder das Wort
Love
singen. Er dreht die Lautstärke runter, um das Lied ausklingen zu lassen, und schiebt die Ärmel seines ausgeleierten beigen Sweatshirts bis zu den Ellbogen hoch.
    »Als ich ein Kind war, haben meine Eltern fast jeden Abend die Schallplatte
All You Need Is Love
aufgelegt«, erzählt er, hockt sich auf den Rand des Pults und schaut uns an. »Damals dachte ich, das wäre einfach ein Lied zum Herumhopsen. Ich konnte den Text auswendig, bevor ich ganz begriffen hatte, was er bedeutet. Mitsingen machte einfach Spaß.« Er greift nach dem Stapel Arbeitsblätter auf dem Tisch und verteilt sie an uns. »Aber wenn ihr euch den Songtext genauer anseht, dann merkt ihr, dass er viele Elemente eines Gedichts enthält.«
    Er legt das Blatt auf meinen Tisch, und ich betrachte seinen Ehering und die Härchen unterhalb der Fingerknöchel. Ich frage mich, wie seine Frau ist und ob sie nachts in ihrem Haus zu Beatles-Songs oder anderen Oldies herumtanzen. Ich versuche, mir ihr Haus mitsamt seiner Einrichtung vorzustellen, und überlege, dass sie wahrscheinlich Unmengen an Zimmerpflanzen haben, und an den Wänden hängen echte Gemälde, die Freunde von ihnen gemalt haben.
    »Caitlin.« MrRobertson lächelt mich an und unterbricht meine Gedanken. »Nenn uns ein poetisches Element in diesem Song.«
    »Okay.« Ich lese den Text schnell durch, aber ich kriege eigentlich gar nichts mit vor lauter Angst, dass ich endlos lange für meine Antwort brauche. »Wenn man es genau betrachtet, dann sieht man da … ein Muster? Viele Wiederholungen?«
    »Super. Wiederholungen. Benjamin, was

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