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Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Titel: Ich werde immer da sein, wo du auch bist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Lacour
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Obwohl ich das immer nur zum Spaß gemacht habe, hat es ihr vielleicht weh getan.
    Der Morgennebel breitet sich wie eine Decke der Reue von Baum zu Baum aus. Ich hole die Kamera aus meinem Rucksack. Ich möchte unbedingt ein Foto machen.
    Aber ich kann es nicht.

18
    Ich gehe in meinen Mathekurs und überrasche mich selbst, weil ich auf den Platz hinter Taylor schlüpfe.
    »Sie hat sich die Pulsadern aufgeschnitten«, sage ich.
    Taylor dreht sich zu mir um. Er sieht ratlos aus, wie immer, wenn er die Zahl für x nicht finden kann. Ich halte seinen Blick fest. Die Wut schlingt Knoten in meinem Bauch.
    »Was?«, fragt er.
    »Sie hat sich die Pulsadern aufgeschlitzt und ist verblutet. So hat sie’s gemacht. Das geht oft schief, aber sie hat es geschafft.«
    Taylor zuckt zusammen, er ist ganz blass. Seine Blicke weichen meinen aus.
    »Jetzt weißt du es«, sage ich.
    Ich lehne mich zurück, weg von ihm.
    MrJames zeigt uns mit seinem uralten Overhead-Projektor die Lösungen für unsere Hausaufgaben vom letzten Mal, aber ich kann mich nicht konzentrieren. Ich sehe nur sie.
    Ich starre auf die Tischplatte und hoffe, dass die Leere das Bild löscht. Jemand hat mit schwarzem Marker
Du Arsch
in die rechte obere Ecke geschrieben. Ich gebe mir beim Wegreiben der Buchstaben solche Mühe, dass ich einen Krampf im Daumen kriege. Die Buchstaben verblassen nicht. Ich atme schwer und merke, dass Taylor sich wieder zu mir umdreht, aber ich will ihn nicht ansehen.
    »Ich brauch einen neuen Tisch«, sage ich zu niemandem, schnappe mir meinen Rucksack und gehe zwischen den Sitzreihen hindurch, bis ich einen Tisch mit sauberer Tischplatte finde.
    Aber ich sehe sie immer noch, als wäre ich an jenem Morgen dort gewesen. Als hätte ich anstelle ihrer Mutter die Tür von Ingrids Badezimmer aufgestoßen und sie nackt in der Wanne gefunden. Die Augen geschlossen, der Kopf vornübergekippt, die Arme trieben in dem roten Wasser. Ich sehe hoch zu MrJames’ Projektor, aber ich sehe die Wunden in ihren Armen, entlang der Venen. Ich kann nicht hören, was er sagt. Als Erstes verschwinden die Geräusche, und dann lösen sich alle Konturen auf.
    Langsam, ganz langsam senke ich den Kopf, bis mein Gesicht auf der kalten Tischplatte liegt. Ich konzentriere mich auf mein Atmen, fühle mein Herz hart pochen. Ich höre das schwache Ticken der Uhr. Ich sehe auf die Stelle an der Wand, wo sie hängt, und durch das Gebrumm von MrJames’ Stimme warte ich darauf, dass ich sie wieder klar erkennen kann.

19
    Ingrids Haut war seidenweich und so blass, dass sie durchsichtig schien. Ich sah die blauen Adern in ihrem Arm, dadurch wirkte sie zerbrechlich. So zerbrechlich wie Eric Daniels, mein erster Freund, als ich meinen Kopf auf seine Brust legte und sein Herz schlagen fühlte und
Oh
dachte. Menschen denken normalerweise nicht an Blut und an den Herzschlag. An ihre Lungen. Aber immer wenn ich Ingrid ansah, musste ich an all das denken, was sie am Leben erhielt.
    Als sie sich zum ersten Mal ritzte, benutzte sie die scharfe Spitze eines Schablonenmessers. Sie hob ihr T-Shirt hoch und zeigte mir die verschorften Schnitte. Sie hatte FICK DICH in ihren Bauch geritzt. Ich stand einen Augenblick lang stocksteif da und schnappte nach Luft. Ich hätte sie auf der Stelle in das Zimmer der Schulkrankenschwester zerren sollen, in das Kämmerchen mit den zwei mit weißem Papier bezogenen Untersuchungsliegen und dem süßlichen, schalen Geruch nach Medizin.
    Ich hätte Ingrids Hemd hochziehen und die Schnitte zeigen sollen.
Sehen Sie
, hätte ich zur Krankenschwester mit ihrer Brille sagen sollen.
Helfen Sie ihr.
    Stattdessen hatte ich mit dem Finger die Wörter nachgezogen. Die Schnitte waren nicht sehr tief gewesen, deshalb war die Schorfschicht dünn. Rau und braun. Ich wusste, dass sich viele Mädchen an unserer Schule ritzten. Sie trugen immer langärmelige Sachen, machten Schlitze für die Daumen in die Ärmel und zogen sie über ihre Handgelenke, damit man die Narben auf ihren Armen nicht sehen konnte. Ich wollte Ingrid fragen, ob es weh getan hat, aber ich kam mir dumm vor, als wäre ich schrecklich naiv, deshalb sagte ich:
Fick dich selbst, dumme Nuss
.
    Ingrid kicherte, und ich versuchte das Gefühl zu verdrängen, dass sich etwas Gutes zwischen uns unaufhaltsam in etwas Schlechtes veränderte.

20
    Dad begrüßt mich am Fuß der Treppe und schwenkt meine Lieblingsturnschuhe an den Schnürsenkeln hin und her.
    »Sieh dir die mal an«, befiehlt er. »Die sind doch

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