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Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Titel: Ich werde immer da sein, wo du auch bist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Lacour
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dürfen, die sie sich selbst beigebracht hat. Ich hätte sie bemerken müssen. Sie hätte eine Freundin gebraucht, die sie so deutlich sah wie nur möglich. Die sich bemühte, sie zu verstehen.
    Meine beste Freundin ist tot, und ich hätte sie retten können. Es ist falsch, absolut und qualvoll falsch, dass ich heute Abend lächelnd zur Haustür hereinspaziert bin.

Winter

1
    Im Morgengrauen gehe ich zur Schule. Ich bin hellwach und aufgekratzt, benommen und erschöpft. Ich habe nie geahnt, dass man all das gleichzeitig sein kann, aber da bin ich, auf dem Weg zur Schule, mit schweren Lidern, und mein Atem bildet weiße Wölkchen in der kalten Luft.
    Anderthalb Stunden vor Unterrichtsbeginn ist das Schulgelände wie eine Geisterstadt – keine Autos auf dem Parkplatz, keine Busse in der Auffahrt, alles menschenleer.
    Ich breche in das Fotolabor ein.
    Ingrid und ich haben das ständig gemacht. Es gibt nur ein Fenster auf der Rückseite, hinter verwilderten Büschen, wo niemand je hinkommt. Wahrscheinlich kennt das nicht mal der Hausmeister. Ingrid und ich haben es irgendwann mal von innen geöffnet und nur wieder angelehnt, und soweit ich weiß, hat es inzwischen niemand verriegelt. Ich drücke es auf und lass meinen Rucksack reinplumpsen, dann ziehe ich mich hoch und klettere hinein. Ich schiebe das Fenster zu und stehe in völliger Dunkelheit. Dann taste ich mich zur Dunkelkammer vor.
    Vielleicht liegt es daran, dass ich letzte Nacht kaum geschlafen habe, oder es liegt an der vollkommenen Dunkelheit, aber als ich die Dunkelkammertür hinter mir schließe, sehe ich Ingrid vor mir. Sie schaltet das Sicherheitslicht ein und holt in dem roten Schein Filmrollen aus ihrer Tasche. Nur ihr gelbes Kleid und ihre nackten Füße werden beleuchtet, rundum ist Schwärze. Sie hat mir den Rücken zugewandt. Bei jeder Drehung sehe ich ihr Profil. Ich möchte sie berühren, aber ich bleibe auf meiner Seite des Raums. Wenn ich mich völlig ruhig verhalte, wird dieser Augenblick vielleicht ewig dauern.
    Ohne sich umzudrehen, sagt sie:
Ich habe gestern eine Superrolle verknipst
.
    Was denn?
    Ich hab in meinem Zimmer gesessen, und da ist auf einmal ein kleiner Vogel auf dem Zweig vor meinem Fenster gelandet.
    Du hast einfach nur dort gesessen? Woran hast du gedacht?
    Och, keine Ahnung. An nichts. Der Vogel blieb für mich da und ist von Ast zu Ast gehüpft, während ich ein Foto nach dem anderen geschossen habe.
    Ich habe dein Tagebuch gefunden. Du wolltest, dass ich es finde, ja?
    Und als er dann wegfliegen wollte, hat er sich gereckt und so schnell mit den Flügeln geschlagen, bis sie nur noch zwei verschwommene Flecke waren.
    Ich hab nicht gewusst, dass du solche Angst gehabt hast.
    Als hätte er auf mich gewartet, als wüsste er, dass ich ein Spitzenfoto von ihm machen würde. Ich hab mindestens zwei Bilder, auf denen er in der Luft schwebt, bevor er weggeflogen ist.
    Endlich dreht sie sich zu mir um. Ihre klaren, blauen Augen, ihr schiefes Lächeln. Sie schiebt sich mit dem Handgelenk eine blonde Locke aus dem Gesicht und achtet darauf, dass sie keine Chemikalien ins Auge bekommt. Ein scharfer Schmerz durchzuckt meine Brust. Ich habe zu atmen vergessen.
    Natürlich hast du gewusst, dass ich Angst hatte. Aber du konntest nichts daran ändern.
    Ihr Anblick schmerzt. Ich schließe die Augen. Als ich sie wieder aufmache, ist es im Raum still und leer. Sie ist verschwunden.
    Ich taste mich zum Arbeitstisch vor und öffne meine Filmdose. Der lange Streifen kringelt sich in meiner Handfläche. Ich taste nach der Spule, rolle den Film auf und fülle den Plastikbehälter mit Entwicklerflüssigkeit.
    Mir bleibt kaum genug Zeit, um den Film zu entwickeln und die Negative zu trocknen. Ich brauche meine Landschaft Punkt acht Uhr.

2
    Während der vierten Stunde schauen wir uns einen Film über die Größe des Universums an, die beliebten Mädchen schreiben sich ununterbrochen wichtige Briefchen, während der Lehrer mit einem Rotstift unsere Tests korrigiert. Eine tiefe Männerstimme tönt aus den Fernsehlautsprechern, und ich spüre tief unten in meinem Magen etwas Giftiges. Ich würde Dylan gern ganz vernünftig erklären, was mir gestern Nacht klargeworden ist: Freundschaft ist eine Riesenverantwortung, und ich packe das momentan nicht.
    Aber als es klingelt, nehme ich meinen Rucksack und versuche, als Erste den Raum zu verlassen. Vielleicht sollte ich mich auf der Toilette verstecken, aber ich bin zu aufgeregt, um an einem Ort zu bleiben.

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