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Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Titel: Ich werde immer da sein, wo du auch bist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Lacour
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über das Kennenlernen gefreut habe, als sie ihren Gurt aufklickt, sich rüberbeugt und mich umarmt.
    »Wie schön, dass wir uns kennengelernt haben«, sagt sie. »Ich hoffe sehr, dass wir uns bald wiedersehen.«
    Ich umarme sie auch. Als wir uns loslassen, schauen Dylan und ihre Mutter uns lächelnd an. Ich möchte den Rest meines Lebens in diesem Auto verbringen. Die Knie gegen Dylans Rücklehne stemmen und einfach so bleiben. Aber durch die Gardinen von unserem Haus scheint Licht, und ich öffne die Autotür und lasse die Nacht herein.
    »Tschüs«, sage ich.
    Alle drei sagen ebenfalls Tschüs.
    Drinnen erkundigen sich meine Eltern, wie mein Tag war.
    »Gut.« Ich strahle. »Echt gut.«
    Sie forschen in meinem Gesicht nach Ironie, und als sie keine finden, wechseln sie neugierige, lächelnde Blicke.
    Beim Zähneputzen denke ich an Dylan und mich, wie wir heute in der Stadt zwischen den Wolkenkratzern rumgelaufen sind. Sogar die Luft fühlt sich dort lebendiger an. Ich beschließe, dass wir öfter dorthin fahren müssen, mindestens ein paarmal pro Woche. Als ich das Licht ausmache und mich unter die Decke kuschele, stelle ich mir vor, wie ich in Zukunft unter einem Baum mit Dylans Freunden faulenze, die dann auch meine Freunde sind. Ich sehe aus wie sie und habe coole Klamotten an. Wir erzählen einem Neuling Geschichten.
    Eine Minute später knipse ich das Licht wieder an.
    Ingrid.
    Ich hole ihr Tagebuch und lese.
    Liebe Caitlin,
     
    als du heute gegangen bist, habe ich angefangen zu heulen und konnte nicht mehr aufhören. Es gibt so vieles, was ich dir unbedingt schrecklich gern erzählen würde, aber es geht einfach nicht. Manchmal denke ich, dass meine Mutter die Verrückte von uns beiden ist. Aus den winzigsten, völlig normalen Dingen macht sie ein Riesentheater. Aber wenn ich merke, dass nicht mal du mich verstehst, weiß ich, dass ich total verrückt sein muss. Du schaust mich an, und ich sehe dir an, dass du sekundenlang nicht weißt, wer ich bin, und das haut mich um. Dann bin ich total verunsichert. Ist es normal, dass ich gerade fünf Löffel Zucker in den Tee getan habe, und ist es normal, dass ich das Licht in meinem Zimmer angemacht habe, bevor ich reinging, statt erst reinzugehen und es dann anzumachen? Und ist es normal, dass ich manchmal in den Spiegel schaue und mich absolut hinreißend finde, und dann wieder schaue ich rein und sehe eine widerliche Schlunze. Jede Nacht surfe ich stundenlang im Internet. Da gibt es Menschen, die denken, sie wären Hitler. Und es gibt Menschen, die aus lauter Angst nie aus dem Haus gehen und höchstwahrscheinlich den Rest ihres Lebens allein verbringen werden. Und dann gibt es Menschen, die ihre Kinder umbringen, und ich habe schreckliche Angst, dass ich auch so werde. Jeden Tag will ich dir von all den Pillen erzählen, die ich schlucken muss, und wie die Ärzte alles über mich in ihre kleinen Notizbücher schreiben, und … Verdammte Scheiße, was schreiben sie da? Ich möchte dir alles erzählen, aber ich kann es nicht, weil ich es nicht ertragen könnte, wenn du mich so ansiehst. Ich möchte, dass du mich ansiehst und mich normal findest. Genau das bräuchte ich von dir.
     
    In Liebe
    Ingrid
    Mir bricht schier das Herz. Ich habe mich nie für vollkommen gehalten, nicht mal annähernd, aber ich habe nie gewusst, wie schrecklich ich für Ingrid war. Jetzt weiß ich es, und es zerreißt mich. Wie damals, als wir uns im Umkleideraum umgezogen haben und Ingrid sich im Spiegel entsetzt angestarrt und gesagt hat:
Wie kannst du nur meinen Anblick ertragen? Ich bin so hässlich
. Ich habe sie in diesem Augenblick nicht angesehen, habe ihr kaum zugehört. Ich dachte, sie will nur Komplimente hören wie alle anderen. Ich wusste nicht, welche schreckliche Angst sie quälte. Aber ich hätte es wissen sollen, weil Freundinnen das tun:
    Sie merken, was los ist.
    Sie sind füreinander da.
    Sie sehen das, was Eltern nicht sehen.
    Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich mich mit ihr vor den Spiegel im Umkleideraum stellen und ihr all die wunderbaren Dinge aufzählen, die ich an ihr sehe.
    Und all die Male, als sie ausgerastet oder verstummt ist und mich weggeschickt hat, wäre ich nicht weggegangen. Ich hätte mich an ihre Zimmertür gelehnt und gewartet. Auch wenn ich nicht bis in die dunklen Ecken ihrer Seele gelangen konnte, hätte ich wenigstens da draußen auf sie warten müssen. Vor allem hätte ich mich nicht von den Ritzereien und Brandwunden abwenden

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