Ich werde immer da sein, wo du auch bist
klingelt es zur dritten Stunde, und die Flure sind wieder leer. Ich starre Ingrids Foto an und frage mich, ob ich diesen Hügel wiederfinden würde. Dann gehe ich zur Toilette.
Ich betrete sie mit der Erwartung, dass es hier so leer ist wie sonst. Aber da ist jemand. Dylan steht am Waschbecken, dreht mir den Rücken zu und wäscht sich die Hände. Sie zuckt bei meinem Eintreten zusammen, und mir ist, als sähe ich ein Gespenst. Die Neonröhre an der Decke taucht alles in ein scheußliches Licht.
»Was machst du hier?«, frage ich.
Im Spiegel sehe ich die klaren Konturen ihres Kinns, die hervorstehenden Schlüsselbeine und eine winzige Narbe an der Stirn, die ich noch nie bemerkt habe.
Sie sieht mein Spiegelbild an und sagt: »Ich hab nicht gewusst, dass dieses Klo dir gehört.«
In diesem Licht wirkt ihre Haut im Kontrast zu den schwarzen Klamotten sehr blass. Dylan reißt sich ein Papierhandtuch von der Rolle ab. Sie dreht sich um, lässt das Papier in den Mülleimer fallen und stapft an mir vorbei durch die Tür. Auch nachdem sie gegangen ist, stehe ich regungslos da. Das Schuljahr ist fast zur Hälfte herum. Ich wüsste gern, ob ich sie irgendwie dazu bringen kann, mir zu verzeihen.
An diesem Abend öffne ich vor dem Einschlafen mein Fenster und lehne mich mit der Kamera hinaus in den Nachthimmel. Ich stelle die Verschlusszeit so kurz ein, dass die Kamera nicht den geringsten Lichtschimmer sehen kann.
Ich schieße das Foto.
Im Foto-Kurs geht es jetzt um Kontraste. Ich werde ein völlig schwarzes Foto abgeben.
13
Am Samstagmorgen denke ich beim Aufwachen daran, dass Ingrid und ich die meisten Wochenenden mit Fotografieren verbracht haben. Wir gingen immer zu denselben Plätzen, redeten kaum, immer auf der Suche nach der perfekten Fotografie. Dann schlichen wir uns in die Dunkelkammer der Schule und entwickelten alles.
Auf diesen Fotos konnte man dann unser ganzes Wochenende betrachten: Meine Version trocknete an der Leine, Ingrids trocknete überall im Raum. Ich betrachtete ihre Bilder und erkannte nichts davon wieder.
Die große Eingangshalle von der Mall: Ich sah eine Traube schlaffer Luftballons im Eingang eines neuen Ladens, sie sah einen leeren Kinderwagen.
Mein Zimmer: Ich sah einen Stapel Zeitschriften auf dem Teppich, sie sah einen Zettel von Mom, auf dem
Denk an die Wäsche
stand.
Ein Park in San Francisco: Ich sah Möwen im Flug, sie einen Hügel mit Blumenwiese.
Ich vermisse das Geräusch von belichtetem Papier, das in den Entwickler gleitet, ich vermisse es, dann kurz die Luft anzuhalten und zu sehen, wie das Bild langsam Gestalt annimmt. Wie die dunklen Partien dunkel werden. Den Gedanken: Das habe ich gemacht.
Ich muss zwar nur ein schwarzes Foto entwickeln, aber ich möchte dieses Gefühl haben. Ich will etwas machen, das nach dem Trocknen an meiner Wand hängt. Ich suche in einer Schublade nach der Filmrolle, die ich an dem Abend vor dem ersten Schultag verknipst habe. Ich erwarte nicht, dass die Fotos vom Mond was werden, aber vielleicht eins von unserem Haus.
Ich steige durch das Fenster ins Fotolabor ein und gehe sofort in die Dunkelkammer. Sobald ich um die Ecke komme, wo die Waschbecken sind, spüre ich, dass etwas anders ist: Ich bin nicht allein.
Ich warte darauf, dass sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen.
Zuerst erkenne ich sie nicht. Sie trägt Jeans und einen Kapuzenpullover und hat die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie steht mit dem Rücken zu mir und hängt ein Foto auf.
»Hallo, Caitlin«, sagt Ms Delani.
»Hallo«, murmele ich und bin darauf gefasst, dass sie mich rausschmeißt.
Aber sie hält mir keinen Vortrag über unbefugtes Eindringen und droht auch nicht damit, meine Eltern anzurufen. Stattdessen sagt sie: »Der Vergrößerer in der Ecke ist frei.«
»Okay.«
Zögernd taste ich mich in die Ecke. Veenas Rotlicht ist an, deshalb kann ich meine Filmdose noch nicht öffnen. Selbst das würde den Film belichten. Ich will sie nicht darum bitten, die Lampe auszuschalten, aber es wäre unhöflich, wenn ich einfach abhauen würde, nachdem sie mir gesagt hat, ich könnte bleiben. Ich warte regungslos und würde gern wissen, was ich tun soll.
»Willst du was entwickeln?«, fragt sie.
»Ja.«
Sie knipst das Licht aus.
»Danke.«
Ich wickele meinen Film schnell auf die Spule und drehe den Deckel fest, damit kein Licht hineinfallen kann.
»Fertig«, sage ich, und das Licht geht wieder an. Ich versuche, einen Blick auf ihre Fotos zu erhaschen,
Weitere Kostenlose Bücher