Ich werde immer da sein, wo du auch bist
im Reitersitz auf einen Ast, stütze das Brett auf eine Sprosse und befestige es. Dieses neue Brett wird die erste Stütze, und ich muss sechs anbringen, um die sechs Speichen zu stützen. Ich vertreibe alle Gedanken aus meinem Kopf und konzentriere mich auf das Geräusch des Hammers und das Gewicht der Bretter.
Nach der Hälfte habe ich keine Kraft mehr in den Armen. Aber ich bin entschlossen, alle sechs heute Abend aufzustellen, deshalb mach ich nur eine kurze Pause.
Ich rutsche zur Leiter und klettere runter. Ich hole das Jahrbuch aus meinem Rucksack. Die Taschenlampe beleuchtet meine Umgebung – den Baumstamm, das Gras, das Laub auf der Erde, die Zweige und die Steine. Wenn ich könnte, würde ich alles einsammeln.
Ich bin nicht gerade glücklich. Ich schäme mich wegen Dylan und bin durcheinander und wütend auf mich. Trotzdem ist jetzt etwas ziemlich richtig und fühlt sich gut an. Jeden Luftzug fühle ich durch mich hindurchwehen.
Ich blättere in dem Buch, bis ich MrsCapellis Klasse finde. Da unten rechts ist Taylors Foto – klein, schwarz-weiß, körnig, aber unglaublich liebenswert. Er lächelt sein strahlendes, freundliches Lächeln. Schon damals sah er aus wie ein Filmstar, ein kleiner Junge mit wenig Text und ohne Schauspieltalent, aber das ist egal, weil er so niedlich war.
Ich finde mein Foto. Ich lächele darauf unsicher, meine Haare sind mit Spangen zusammengefasst, mein Gesicht leicht zur Seite geneigt. So war ich, bevor ich irgendwas Schlimmes erlebt habe, als mein Leben nur aus Pausenbroten und Hausaufgaben und Buchstabieren bestand. Als meine größte Verantwortung darin bestand, einmal im Jahr eine Woche lang den Klassenhamster mit nach Hause zu nehmen und mit Futter und Wasser zu versorgen.
Ich halte die Taschenlampe näher heran und betrachte mein Gesicht. Ich ändere meine Meinung. Ich war ein sehr stilles Kind, sehr schüchtern und leise und mit meinen Gedanken beschäftigt. Natürlich war ich auch manchmal traurig. Vielleicht war das der Grund, weshalb ich immer alles, was ich hübsch fand, aufbewahrt habe.
Nachdem ich noch zwei Stützen angebracht habe, wird mir klar, dass ich nicht mehr weitermachen kann. Ich kann die sechste Stütze am sechsten Balken nirgendwo anbringen. Das schaffe ich heute nicht mehr. Nächstes Mal werde ich ein Seil an den höchsten Ast binden, damit kann ich überall dorthin pendeln, wo ich jetzt noch nicht hinkomme.
11
Ich weiß, ich sollte etwas essen, aber in meinem Magen grummelt es noch immer wegen dem, was gestern Abend mit Taylor passiert ist. Ich rühre mit dem Löffel in meinem Müsli herum, dann lege ich ihn auf den Tellerrand. Meine Eltern lesen Zeitung, und als Dad vom Küchentisch aufsteht, um aus dem anderen Zimmer seine Aktentasche zu holen, räuspert sich Mom und wendet sich mir zu.
»Caitlin«, sagt sie mit ihrer Rektorinnenstimme. »Ich freue mich, dass du neue Freunde gefunden hast. Freunde sind wichtig für dich. Ich möchte dich aber um etwas bitten – es ist keine große Sache, nur etwas, das dein Vater und ich besprochen haben. Nämlich dass du die Tür auflässt, wenn Taylor herkommt. Oder ein anderer Junge. Du musst sie nicht weit aufstehen lassen, nur angelehnt, einverstanden?«
Ich starre auf mein Cranberry-Mandel-Müsli, das in der Milch aufweicht.
»Warum?«
Die Zeitung von Mom raschelt. »Weil es besser so ist. Wir vertrauen dir, aber wir wissen auch, wie man sich in deinem Alter fühlt. Es ist okay, wenn du und Taylor gern zusammen seid.« Sie macht eine Pause. »Küssen ist auch okay oder rumknutschen oder wie immer du das nennen willst. Solange die Tür offen ist und verhindert, dass du dich völlig hinreißen lässt.«
In meinen Eingeweiden kneift es, und eine Sekunde lang möchte ich Mom erzählen, was wir getan haben, aber der Wunsch verschwindet sofort wieder.
Stattdessen sage ich: »Meine Freundin Dylan ist lesbisch, muss ich da auch die Tür auflassen, wenn sie hier ist?« Es kommt ziemlich zickig raus, und ich habe ein schlechtes Gewissen, weil Mom sich wirklich Mühe gibt.
Sie seufzt. »Tja, Süße, bist du denn lesbisch?«
»Nein.«
»Dann, denke ich mal, kann die Tür zubleiben.«
»Okay.« Ich will nett sein. »Damit kann ich leben.«
12
Ich kann nicht in die Mathestunde gehen. Den ganzen Morgen habe ich versucht, den nötigen Mut dafür aufzubringen, aber ich kann Taylor unmöglich gegenübertreten.
Als die zweite Stunde zu Ende ist, gehe ich zu meinem Spind. Einige Minuten verstreichen, dann
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