Ich werde rennen wie ein Schwarzer, um zu leben wie ein Weisser
würden, einen, der die Bälle verteilt und auch mal selbst draufhält. »Lens wollte mich«, sagt Ordi. »Das heißt: Im Prinzip wollten sie mich. Delmotte meinte, ich solle erst mal zurück nach Kamerun und mir ein längeres Visum besorgen. Dann könnten wir über einen Vertrag sprechen.«
Ordi wollte nicht zurück, und er konnte nicht, zumindest nicht mit leeren Händen. Seine Mutter hatte ihm Geld gegeben für das
Flugticket, sie hatte monatelang dafür gespart, und als Ordi sich verabschiedete am Abend des 8. August 2006, kurz bevor er mit Air France von Yaoundé nach Paris flog, sagte sie: »Du weißt, wir brauchen dich. Viel Glück.«
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Nein, zurück, das ging nicht, das geht bis heute nicht, sie brauchen die 100 Euro, die er jeden Monat nach Hause überweist. Der Vater ist tot, die Mutter kümmert sich um drei Kinder. Ordi, der sein Geld als Möbelpacker verdient, ohne Lohnsteuerkarte, ohne Versicherung, ernährt eine ganze Familie.
Zu Hause in Kamerun wissen sie nicht, wie er lebt in Paris. Sie wissen nicht, dass er in Metro-Schächten geschlafen hat und in Parks. Sie wissen nicht, dass er ständig auf der Flucht ist. Dass er Angst hat vor jedem Polizisten, den er auf der Straße sieht. Dass er nur 300 Euro verdient im Monat, oft weniger. Dass er sich jetzt mit sechs Afrikanern ein Zimmer teilt in einem Bahnhofsviertel. Sie wissen nichts von den Streitereien jeden Abend darüber, wer außen auf den Matratzen liegen darf. Sie wissen nicht, dass die Randplätze begehrt sind, weil sie ein bisschen Privatsphäre bieten, zumindest zu einer Seite, zur Wand hin.
Seit September 2006 lebt Ordi illegal in Paris
Ordi erzählt das alles nicht. Er sagt: »Ich will das meiner Familie und meinen Freunden nicht antun. Sie würden sich nur Sorgen machen.«
So aber kommen jeden Monat 100 Euro an, ein kleines Vermögen in Kamerun, einem Land, in dem ein Viertel der Bevölkerung unterernährt ist. Die 100 Euro landen auf dem Konto, und alle glauben, dass Ordi es geschafft hat in Europa.
Wieder eine falsche Geschichte mehr, die Sehnsüchte weckt. Es gibt Tausende solcher Geschichten, die durch Afrika schwirren, wahrscheinlich sogar Millionen. Es sind nicht unbedingt gelogene Geschichten, aber geschönte, frisierte, bereinigt um alle Härten und Schmerzen. Gescheiterte verwandeln sich zu Helden am Telefon. Ja, alles bestens, toller Job. Nein, keine Probleme, alle freundlich hier.
Die Daheimgebliebenen sind wie verzaubert von diesen Geschichten, zu denen es kein Dementi gibt. Und diese Geschichten werden natürlich weitergetragen, und jeder, der sie weitererzählt, poliert sie noch ein bisschen mehr, und irgendwann werden aus Geschichten Legenden. Auch deshalb ist Afrika in Bewegung, auch deshalb gibt es Migration - nicht nur wegen Kriegen, Seuchen und Hunger.
Forscher zählen Legenden über das vermeintlich goldene Europa zu den starken »Pull-Faktoren«; zu den Gründen, die Menschen aus ihrem Land »herausziehen« und zu Wandernden machen. Sie löst einen gewaltigen Sog aus, die Illusion, Europa sei ein Kontinent der Toleranz und Offenheit, der gut bezahlten Jobs und der täglich neuen Chancen.
Ordi hat mal versucht, ein bisschen von der Wahrheit zu erzählen, ganz vorsichtig, in kleinen Portionen. Er hat seinen Geschwistern in Yaoundé gesagt, dass es schwierige Momente gebe für ihn in Paris, Phasen, in denen er sehr wenig Geld zum Leben habe. »Sie haben mir nicht geglaubt«, sagt Ordi. »Sie denken, ich will Europa schlechtreden, weil ich nicht mehr mit ihnen teilen will.«
Jeder in Afrika, der nach Europa geht, wird zum Vorwurf für die, die er zurücklässt in der Heimat. Allein dadurch, dass er geht. Da nimmt einer sein Leben in die Hand, macht sich auf ins Paradies - und wir hier kapitulieren, wir werfen unser Leben weg.
So sehen es die, die erst mal bleiben. Und so sah es auch Ordi in den Jahren, bevor er Kamerun verließ.
Ordi spielte in der Jugendakademie von Jeunesse Star, er hatte seinen Platz im Team sicher. Aber die Mannschaft zerfiel, es wurde schlimmer von Jahr zu Jahr, immer mehr seiner Mitspieler wagten den großen Schritt nach Frankreich. Jean Makoun zum Beispiel, er ging zum OSC Lille. Oder Modeste M’Bami, er wechselte zu CS Sedan. Auch Freunde aus der Junioren-Nationalmannschaft gingen, einer der ersten war Carlos Kameni, der Torwart, er unterschrieb bei AC Le Havre.
Ordi verfolgte den Weg seiner Freunde, er las im Internet, dass sie spielten, dass sie sogar begehrt waren. Modeste
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