Ich will dir glauben
gewesen. Jung oder alt?
Er zuckt mit den Schultern und sagt: »So mittleren Alters.« Er grinst und fügt hinzu: »So wie Sie etwa.« Auch ich muss über mein mittleres Alter grinsen. Ich bin mit zu vielen Dingen beschäftigt, als dass mir eine passende witzige Bemerkung einfallen würde. Also höre ich einfach auf zu grinsen. Er verschwindet im Aufzug, und ich kehre mit gesenktem Kopf in die Wohnung zurück. Ein weiteres Mal muss ich mich meiner Appetitlosigkeit und, wer weiß noch wie lange, den Fragen meines Anwalts stellen.
18
»Nein, gestohlen wurde nichts«, sagt der Mann. Er sitzt gemeinsam mit seiner Frau im Büro von Hauptkommissar Corsari.
»Aber da ist die Sache mit dem Rosenstock«, erwähnt seine Frau ruhig.
»Ja. Also meine Frau hat bemerkt, dass einige Rosen fehlten. Es ist ein Rosenstrauch, der früh zu blühen beginnt. Be reits im Frühjahr sprießen die ersten Knospen, und er trägt bis in den Januar Blüten. Erst in den letzten Tagen waren zu unserer großen Freude die ersten Rosen aufgegangen.«
»Leider hat man die Blumen abgerissen, anstatt sie mit einer Schere abzuschneiden, und dabei wurden die Äste beschädigt. Das ist nicht gerade ein schöner Anblick, so ein verstümmelter Rosenstock«, ergänzt die Frau.
Funi fragt: »Kümmern Sie sich selbst um die Rosen?«
Corsari ist sichtlich wenig interessiert an dem Fall. Ab und an hebt er den Blick und sieht seinen Kollegen scharf an, der allerdings so tut, als bemerke er nichts davon.
»Jeden Tag widme ich mich meinen Rosen. Ich habe einen Gärtner, der mich berät, aber dieser Stock bedeutet mir ganz besonders viel. Es ist ein Geschenk meiner Tochter.«
»Ihrer Tochter? Wohnt sie bei Ihnen?«, fragt Funi leicht überrascht, denn er erinnert sich, kein einziges Foto von ihr im Haus gesehen zu haben. Weder an den Wänden noch in Bilderrahmen auf der Kommode.
»So in etwa könnte man das sagen, ja, sie ist immer bei uns«, antwortet die Frau mit der Andeutung eines Lächelns.
»Sie ist tot«, fügt ihr Mann erklärend hinzu.
»Entschuldigen Sie, ich wollte nicht …«
Aber die Frau unterbricht ihn. »Deswegen bedeutet mir der Rosenstock ja auch so viel.«
»Natürlich, ich verstehe«, erwidert er eilig und wechselt das Thema. »In welcher Beziehung stehen Sie zu Ihren Nachbarn?«
»Wir kennen uns seit vielen Jahren, unsere Kinder sind gemeinsam aufgewachsen. Von Zeit zu Zeit laden wir uns gegenseitig ein. Wir hatten noch nie Meinungsverschiedenheiten. Es sind höfliche, anständige Leute.«
Abgegriffene Formeln , denkt Funi. Worthülsen. Liebenswürdigkeiten. Eine bestimmte Auffassung von Taktgefühl, mit der man ausdrückt, dass auf Form Wert gelegt wird. Penible Zurückhaltung. Man drängt sich nicht auf. Ein bestimmter Grad der Zugehörigkeit wird nicht überschritten. Respekt, Umsicht, Feingefühl.
»Funi, sind Sie dann mal fertig?«, fragt Hauptkommissar Corsari.
»Einen Moment noch«, entgegnet er und hebt sofort zur nächsten Frage an. »Wann kommt Ihr Sohn denn wieder zurück?«
»Das wissen wir nicht genau. Er hätte eigentlich schon längst da sein sollen, aber er hat im Augenblick sehr viel zu tun. Wenn Sie möchten, sagen wir Ihnen rechtzeitig Bescheid.« Der Mann scheint äußerst kooperativ zu sein.
»Eigentlich würde ich ganz gerne mit ihm sprechen«, meint Funi und erhascht den skeptischen Blick seines Vorgesetzten. »Aber das eilt nicht.«
»Können wir dann gehen?«, fragt die Frau überraschend hastig.
»Ach, noch was: Sind Sie besonders religiös?«
»Religiös? Ja«, bestätigt sie. »Wir versuchen, unseren Glauben zu leben. Bei all unseren Fehlern, aber wir versuchen es, so gut es geht.« Eine Auffassung, mit der sie nicht alleine dasteht.
»Danke. Jetzt möchte ich Sie wirklich nicht länger aufhalten.« Funi erhebt sich, um die beiden nach draußen zu begleiten.
19
ANNA
Vom Glauben kann man sich nicht lossagen. Glaube steht für Vertrauen. Ob Vertrauen in Gott oder in die Menschen, das macht keinen Unterschied. Die Schwester des Glaubens ist die Hoffnung, die weder vor Ängsten noch Illusionen bewahrt. Sie leistet Beistand oder flößt Furcht ein. Die Hoffnung birgt Grausamkeit und Zweifel in sich, diese Unfähigkeit zu handeln, die von der Ohnmacht gelenkt wird. Hoffnung heißt, etwas erreichen, was nicht in unseren Möglichkeiten steht, was nur andere uns schenken können. Anna trägt ein Kruzifix um ihr Handgelenk. Sie bewegt sich langsam vorwärts. Schritt für Schritt. Sie schaut nie nach
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