Ich will dir glauben
vorne. Höchstens auf den Boden. Wenn sie muss. Um nicht hinzufallen, um nicht dem noch so kleinsten Rest an Menschlichkeit zu begegnen. Ihr Körper steckt in einem schlabbrigen Pullover. Ihre fehlende Taille ist unter einer weiten Hose versteckt. Über dem Arm trägt sie eine leichte Tasche. Wahrscheinlich ist sie leer. In der Hand ein weißes Buch. Ihr ovales Gesicht umrahmen blonde feine Haare. Sie spricht vor sich hin, aber hört sich nicht. Rezitiert. Ihr Körper wirkt unproportioniert. Sie ist sehr groß, mit langen Armen und Beinen. Sie geht bis zu einem grünen Haus tor. Klingelt. Jemand öffnet, sie tritt ein, und hinter ihr fällt die Tür ins Schloss. Der dunkle Gang öffnet sich zu einem Innenhof, der früher mal der Kreuzgang einer Kirche war.
Weitere Mädchen spazieren langsam umher. Andere sitzen auf den Mauervorsprüngen. Eine Handbewegung, um die Blicke der anderen aufzufangen. Kein Wort. Alle gehen in dieselbe Richtung. Wie luftige Schatten. Durchsichtige Libellen. Sie hinterlassen beim Vorübergehen keine sichtbaren Zeichen, sie selbst sind das Zeichen. Das, was sie mit sich tragen. Das bleibt.
20
CHIARA
Chiara folgt der Schönheit wie eine Wünschelrutengängerin. Ziellos lässt sie sich in ihrer Phantasie hin und her treiben. Sie spielt mit der Verwandlung, seit sie ein Kind ist. Allein, vor dem Spiegel. Sie hat weder Harmonie noch Disziplin. Sie kann sich anstrengen, wie sie will, nie erreicht sie eine echte Eleganz. Sie besitzt keinen Geschmack, außer für das, was man sieht. Für alles, was an der Oberfläche kreist. Sie ist voller Gemeinplätze und hat wenige Laster. Sie geht nichts als den Windungen ihrer Hüften nach. Ihr einziger Blick ins Innere gilt der Vertiefung ihres Bauches. Und ihres Brustbeins. So wie ihr Körper zusammengestückelt ist, wirkt sie wie das Produkt einer Laune der Natur. Sie verliert ihre Haare, die zwischen den Bettlaken und auf dem Kopfkissen lange Fäden ziehen. Sie betet ihren Gott an. Den Gott der Feuchtigkeitscremes, der duftenden Gesichtsmasken und der Arganöle. Sie unterhält keine Beziehungen zu Menschen. Pflegt keine Freundschaften. Schlaksig schleicht sie herum, auf der bruchstückhaften Suche nach einer Bestätigung. Ein schiefes Lächeln, eine Grimasse. Sie benutzt Parfum, trägt Kleider in Größe 32 und bunte Halsketten. Ein Spatz, ein Kind. Sie geht durch das Tor und gesellt sich im Dunkeln zu den anderen, die wie sie sind.
Wie Magneten, die von ein und demselben Punkt angezogen werden, entfernen sich die Mädchen schon bald. Jede in ihrem eigenen Tempo. Manche Seite an Seite.
21
GIULIA
Es gibt nicht nur eine Art Mutter zu sein. Nicht eine passende für alle. Nicht die eine, die für alle gleich liebevoll und tröstend ist. Nicht eine ganz allein für dich. Angebetet, erwählt, gekrönt. Es gibt Erklärungen, Versprechungen. Aber keine Sicherheit. Niemals. Bestrafe mich nicht, weil ich deine Schuhe angezogen habe. Bestrafe mich nicht, weil ich mit deinem Schmuck gespielt habe. Bestrafe mich nicht, weil ich Papas Liebling bin. Giulia rührt sich nicht vom Fleck. Nicht mal für eine Sekunde ihres Lebens.
Jetzt, wo ihre Mutter weit weg ist, fühlt sie sich noch einsamer. Sie sucht die gleiche Liebe in allen Frauen um sich herum. Die Qualen einer Umarmung für einen Körper, der schon längst verloren ist. Sie erkennt sie in der langen Zigarettenspitze. In der ausgesuchten Kleidung, die an ihre Vergangenheit erinnert. Aus der sie ausgeschlossen war. Sie war nur ein Störfaktor, ein Ärgernis. Keine Fürsorge. Das ist ihr Altar. Wo sie ihr Essen darbringt. Das gesalzene Wasser ihrer Tränen. Jeden Tag begießt sie ihre Qual. Ein grimmiger Hass, der alles vernichtet. Immer weniger existiert der Wunsch durchzuhalten. Ein Irrtum von Anfang an, der einen gierigen Schlund hervorgebracht hat. Die Abgründe der Seele.
Alle Töchter ein und derselben Mutter. Mutter des Himmels und der Erde. Das würdige Zeichen der Abstammung. Fähigkeit des Körpers sich fortzupflanzen. Weibliche Kraft, auf die jedoch nichts folgt.
22
Ich forme meinen Körper. Laufe stundenlang. Das Laufband ist auf ein langsames Tempo eingestellt. Dann auf schnell. Dann wieder auf langsam. Dann auf sehr schnell. Dann fast auf Stillstand. Schließlich finde ich die passende Geschwindigkeit. Ich drücke auf den Tasten des Displays herum, bis meine Beine sich nicht mehr sträuben und gezwungenermaßen dem Rhythmus folgen, den ich ihnen vorgebe. Ich habe schlanke, straffe Beine wie die
Weitere Kostenlose Bücher