Ich will dir glauben
tue.
»Guten Tag, ich bin’s, Angelo.« Er reicht mir seine Hand, und ich ergreife sie. Sein Händedruck ist entschlossen, kühl und fest.
»Du kannst hier nicht bleiben. Das ist gegen die Sicherheitsvorschriften. Ich könnte ernsthaft in Schwierigkeiten geraten. Wenn sie ausgerechnet in diesem Moment bei mir anklingeln, riskiere ich eine Gefängnisstrafe. Du musst gehen. Du kannst mich telefonisch erreichen, wenn du mich unbedingt sprechen willst.«
Er setzt sich auf den Sessel, ohne mich um Erlaubnis zu fragen. Auf den Sessel, wo sonst immer ich sitze. Mitten auf die ausgeschnittenen Zeitungsartikel. Er trägt einen dunklen Kapuzenpullover. Seine Hände wirken gepflegt, mit einem schmalen Goldring am linken Ringfinger.
»Erkennen Sie mich wieder?«
»Natürlich erkenne ich dich. Du bist noch immer so jung. Wie alt wirst du wohl sein? Vierundzwanzig, sechsundzwanzig? Was treibst du so? Warum bist du hier? Wie geht’s dir?«
Er streift die Ärmel seines Kapuzenpullovers nach oben. An dem einen Arm sind viele kleine, vernarbte Schnitte zu erkennen, eng nebeneinander, wie die Gräten eines Fisches. Blonde Härchen. Arme eines Mannes, schön geformt, mit leicht hervorspringenden Venen.
Das Telefon läutet. Ich will nicht rangehen. Das erste Klingeln.
»Es kommt vor, dass man vom eigenen Schmerz verführt wird«, beginnt er. »Erinnern Sie sich an diesen Satz?«
Ein zweites Klingeln.
»So sehr, dass man darin gefangen bleibt und den Weg bis zum Äußersten gehen will.«
Ein drittes Klingeln.
»Um zu begreifen, ob man imstande ist, das Äußerste zu überschreiten.«
Ein viertes Klingeln.
»Und jedes Mal verschiebt sich der äußerste Punkt des Erträglichen weiter nach hinten, bis einem klar wird, dass man unbegrenzt so weitermachen könnte. Über die eigenen physischen und psychischen Möglichkeiten hinaus …«
Ein fünftes Klingeln.
Ich muss rangehen. Ich gebe ihm ein Handzeichen, einen Moment innezuhalten. Ich habe das Telefon irgendwo liegen gelassen. Ich beginne es zu suchen.
Ein sechstes Klingeln.
Ich gehe durch den Flur bis zum Bad. Ich kann es nicht finden. Dann gehe ich den ganzen Weg wieder zurück. Es liegt auf dem anderen Sessel, da wo es hingehört. Ich habe es einfach übersehen.
Ein siebtes Klingeln.
Ich gehe ran. »Nein, ich habe nicht geschlafen. Ja, ich bin allein. Ja, wenn ich es dir doch sage. Ich habe das Telefon nur nicht gefunden. Ist gut. Bleib kurz dran.« Während ich spreche, schaue ich mich nach Angelo um. Ich kann ihn nicht sehen.
Angelo ist gegangen. Ich beende meine Rechtfertigungen und klemme mir das Telefon zwischen Wange und Kinn. Ich öffne die Wohnungstür. Sie ist abgeschlossen. Ich schaue nach dem Aufzug. Er bewegt sich nicht. Ich beuge mich über das Treppengeländer. Niemand. Ich gehe auf den Balkon und blicke hinab. Nichts. Nur Kinder mit ihren Müttern. Wohin bist du verschwunden? Er wird einen Moment auf die Toilette gegangen sein. Ich drehe mich um und nehme einen vorbeihuschenden Schatten wahr. Einen Luftzug. Er ist nicht mehr da. Wahrscheinlich ist er rausgegangen, als ich mich gerade über die Balkonbrüstung gebeugt und nach unten gesehen habe. Er hätte sich ruhig verabschieden können. Oder vielleicht habe ich seinen Gruß auch überhört. Er wird eingeschnappt gewesen sein.
Widerwillig nehme ich das Telefongespräch wieder auf. »Warum rufst du überhaupt jetzt an?«
Michele hat bereits aufgelegt. Er wollte mich nur kontrollieren. So wie alle im Moment.
43
»Der Frühling lässt auf sich warten. Die Erde ist kalt, und der Morgen bedeckt alles mit Raureif.«
Ihm hat es schon immer gefallen, sich gewählt auszudrücken. Er hat sich nie daran gewöhnen können, einfach zu sprechen. Dann überrascht er mich.
»Wenn ich etwas einkaufen will, bekomme ich in den Läden alles umsonst. Sie meinen, das sei schon in Ordnung so. Aber mir ist das unangenehm.«
Mein Vater hat sein ganzes Leben lang gegeben. Selber etwas geschenkt zu bekommen war nicht seine Sache. Seine Großzügigkeit, die ihm schon immer eigen war, war verbunden mit dem Bedürfnis zu dominieren. Im ständigen Geben, Zugestehen, Verfügbar sein steckt auch etwas Niederträchtiges. Etwas, das einem das Gefühl gibt, über dem anderen zu stehen. Wenn ich ihn so anschaue, begreife ich, dass es manchmal schwieriger ist zu nehmen, anstatt zu geben.
»Sie fragen nach dir.« Man spürt seine Last, immer die gleichen Antworten geben zu müssen. »Sie wollen wissen, wann du wieder ins Tal
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