Ich will dir glauben
sie die unverblümte Art seiner Fragestellung missbilligt. Er merkt es selbst noch rechtzeitig. »Verzeihen Sie, wenn ich taktlos wirke, aber ich wollte Sie das schon seit Langem fragen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir dennoch antworten würden«, entschuldigt er sich ein wenig zu devot.
Und tatsächlich fühlt sich sein Gegenüber berechtigt, ihn zurechtzuweisen. »Ich weiß nicht, inwiefern die Einzelheiten unserer privaten Trauer Ihnen bei Ihrer Arbeit nützlich sein könnten. Aber zu Ihrer Information: Giulia ist eines natürlichen Todes gestorben.« Er versucht einen möglichst sachlichen Ton anzuschlagen.
Achille Maria Funi assoziiert den Begriff natürlicher Tod mit dem einzigen Bild, das dazu in seinem Kopf existiert: das Alter. Jene Form des körperlichen Verfalls, die am Ende, aber wirklich am Ende unserer Existenz und nicht etwa einer Krankheit, auf uns wartet.
»Was genau meinen Sie denn mit natürlicher Tod ? Sie war doch ein junges Mädchen, wenn ich mich nicht irre?«, lässt er nicht locker.
»Ihr Leben ist erloschen wie die Flamme einer Kerze.«
Noch so ein unsinniger Vergleich. Die Flamme einer Kerze erlischt aufgrund eines Luftzuges oder eines zu kurzen Dochtes, oder weil das flüssige Wachs die Flamme erstickt. Aber fast nie aus, weil sie komplett heruntergebrannt ist.
»Würden Sie mir etwas mehr darüber erzählen?«
»Eines Morgens ist sie nicht mehr aufgewacht.«
»Aber hatte sie denn irgendeine Krankheit?«
»Das ist schwierig zu erklären. Vielleicht könnte Ihnen meine Frau dazu nähere Informationen geben. Ihr Leiden hatte etwas mit dem Essen zu tun. « Chronische Gastritis? Lebensmittelvergiftung? Zu viel oder zu wenig essen? Funi stellt einfache mentale Gleichungen auf.
»Und wo ist Ihre Tochter gestorben?« Er weiß, dass er nicht mehr lange so weitermachen kann.
»Hier zu Hause, in ihrem Zimmer. Sie ist friedlich eingeschlafen.«
»Sie meinen, ohne zu leiden?«
»Friedlich.«
Das wird sich noch herausstellen. Aber nicht jetzt und nicht hier.
45
Die Einwohner von Civate sind gegen eine Entfernung der Kreuze. Das Holz und die Verarbeitung sind hochwertig. Das größte Kreuz ist am oberen Rand mit einigen Gravierungen verziert. Nichts Raffiniertes, aber gefällig. Die Carabinieri versuchen, die potenziellen Urheber des Kunstwerks ausfindig zu machen, Handwerker aus der Gegend, die in erster Linie Holz verarbeiten. Die Landschaft wirkt durch diese Zeichen der Leidensgeschichte Christi nicht wirklich verunstaltet, bleiben die Kreuze doch hinter dem Horizont versteckt, bis man in unmittelbare Nähe der Benediktinerabtei gelangt. Niemand will irgendetwas von alledem bemerkt haben, was in Funis Augen wenig glaubhaft erscheint.
»Wie Sie wollen«, antwortet der Kommissar auf die Bitte einer Gruppe Gläubiger, die Kreuze einfach an Ort und Stelle stehen zu lassen. Sie sind in Strickjacken aus grober Wolle gehüllt, da hier oben auf sechshundert Höhenmetern frischere Temperaturen herrschen.
»Wir müssen sie trotzdem erst mitnehmen, um Proben, Tests und Vergleiche mit ihnen zu machen«, erklärt er in einem Ton, als spräche er zu seiner Mutter.
Die alten Weiblein besprechen sich untereinander und schauen währenddessen mit schmerzvoller Miene zum Kreuz empor, als wären sie Teil eines altvertrauten Bildes: gottesfürchtige Frauen vor den leeren Kreuzen nach der Kreuzabnahme Christi. Schon malen sie sich insgeheim Ostern mit einem neuen Wallfahrtsweg aus, sehen sich bereits die Anhöhe mit qualvollen Geheimnissen und glorreichen Liedern hinaufsteigen. Murren und Vorhaltungen verstummen schon bald.
Unbefangen, doch mit der nötigen Distanz nähert sich Hauptkommissar Funi dem Sockel des größten Kreuzes und verfolgt aufmerksam seine Demontage.
»Da steckt was im Boden!«, schreit plötzlich einer der Polizisten aus Lecco, die zur Hilfe angefordert worden waren. Schaufeln beginnen den Erdboden umzugraben, nicht nur an einem bestimmten Punkt, sondern im gesamten angrenzenden Gebiet. Auch die anderen Kreuze werden nun umgelegt, der Graben immer breiter. Innerhalb von fünf Stunden versammeln sich am östlichen Abhang der Anhöhe weitere Polizeibeamte, darunter die Spurensicherung und eine Gerichtsmedizinerin.
46
»Ich bin Hauptkommissar Achille Funi, von der Kripo Mailand. Ich überwache hier die Beseitigung der Kreuze. Bitte kommen Sie doch mit, die Leiche befindet sich dort drüben.« Funi spricht zu der Gerichtsmedizinerin. Sie hat dunkle Locken, ein breites Gesicht
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