Ich will dir glauben
vermögen, und brennende Fragen, die uns den ganzen Tag über begleiten. Es gibt Dinge, die wir erledigen wollen, ein Telefonat, Briefe. Aber am Ende passiert dann doch nichts. Und alles verschwindet wie durch eine Zeitellipse, die uns zu einem beliebigen Moment wieder an den gleichen Punkt zurückwirft.
»Warum hast du mir eigentlich die Wahrheit gesagt?«, frage ich meine Mutter. Sie ist gerade greifbar. Ich habe ihr schon hundertmal dieselbe Frage gestellt, vielleicht sogar noch öfter. Ab dem Moment, als sie mir gestand, dass sie mich nicht geboren hatte. Sondern eine andere Frau. Damals war ich achtzehn. Ein tolles Geschenk, nicht? Sie war immer auf meine Fragen gefasst. In den Kursen für Adoptiveltern hatte man sie sorgfältig darauf vorbereitet. »Warum wolltest du mir unbedingt die Wahrheit sagen?«
»Es war einfach fair dir gegenüber.« Sie setzt unbeirrt ihre Stickerei fort, ein weißer Vorhang mit zwei weißen Engeln, die beide eine dünne weiße Kerze in Händen halten. Ich weiß nicht, wie sie die Motive überhaupt noch auseinanderhalten kann. Wahrscheinlich macht sie alles inzwischen blind. Ganz automatisch.
»Warum hast du mir dann nicht die ganze Wahrheit gesagt?«
»Weil ich sie nicht kenne. Ich weiß nur das, was ich nach dem Gesetz auch wissen darf. Und das habe ich dir alles erzählt.«
»Und du wolltest auch nie alles wissen? Also wirklich alles?«
»Nein, Dolores. Das interessiert mich nicht. Ich will nur die Sachen wissen, die wichtig für mich sind. Die uns möglicherweise dabei helfen können, ein anständiges Leben zu führen – dir, mir und deinem Vater.«
»Du wärst also in der Lage, einen Menschen zu belügen, nur um ein anständiges Leben führen zu können?«
Sie hat sich mit der Nadel in den Finger gestochen, und ein Tropfen Blut befleckt den schneeweißen Vorhang. Sie saugt an ihrer Fingerkuppe und blickt mich an. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch niemanden belogen. Oder doch, vielleicht dich. Die ersten achtzehn Jahre deines Lebens. Wenn etwas verschweigen lügen bedeutet, dann habe ich dir verheimlicht, dass du nicht mein leibliches Kind bist. Aber ich denke, dass ich es zu deinem Wohl getan habe, und vielleicht auch zu meinem eigenen Wohl und jenem deines Vaters.« Sie hat auch dieses Mal wieder die übliche Antwort parat. Doch dann ergänzt sie: »Wenn ich das Rad der Zeit zurückdrehen könnte, würde ich mich allerdings anders verhalten.«
»Wie, anders?«, frage ich sie und erwarte eine neue Antwort.
»Ich weiß nicht genau. Vielleicht würde ich es dir früher sagen. Damit du dich von Anfang an mit dem Gedanken anfreunden könntest. Dann hättest du vielleicht ein anderes Leben geführt. Hättest niemals Psychologie studiert, wärst vielleicht auch niemals Polizistin geworden und würdest jetzt nicht hier mit einer so großen Last auf deinem Gewissen sitzen.«
Das ist ihre Form des Schuldeingeständnisses. Ich hätte es mir denken können, dass sie nicht imstande war, sich ein Leben vorzustellen, in dem sie nicht im Zentrum stand. Sie allein musste die Verantwortung für die gegenwärtige Situation auf sich nehmen. Sie stand bei allem immer im Zentrum. Im Guten wie im Schlechten. Ich sage nichts dazu und gehe in mein Zimmer.
Sie steht auf. Sie wird ins Bad gehen, um mit kaltem Wasser den Blutfleck aus dem weißen Leinen zu reiben. Nur so lässt sich Blut aus Stoff entfernen, hat sie mir viele Male erklärt. Aber ich weiß, dass das nicht stimmt. Die Spur bleibt für immer zurück. Es genügt allein der Wille und das Wissen, um sie zu finden.
91
»Ein toter Gerechter richtet die lebendigen Gottlosen!«, kreischt ein unverkennbar psychisch kranker Junge. Und noch einmal: »Ein toter Gerechter richtet die lebendigen Gottlosen!« Er kauert auf dem Boden, zwischen den schmutzigen Resten des geschmolzenen Schnees, direkt vor dem Eingang zum Mailänder Polizeipräsidium. Achille Funi geht an ihm vorüber, blickt um sich und sieht Gesichter, die ihm von irgendwoher bekannt vorkommen. Ein Polizeibeamter versucht gerade, einen Mann und eine Frau in Richtung Eingang zu zerren, die sich beharrlich weigern, das Schaufenster eines Floristen zu verlassen, auf dem sie, so der Eigentümer des Ladens, mit ihren dreckigen Händen schmierige Abdrücke hinterlassen haben.
»Was sind denn das für Leute?«, fragt Funi.
»Sie kommen von den Kreuzen von Civate«, antwortet der Polizeibeamte.
»Was soll das heißen?« Funi wirkt besorgt und zugleich verblüfft.
»Das weiß
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