Ich will dir glauben
jenem Tag, hinter der Tür. Mit diesen Worten hast du mich dazu gebracht, die Tür aufzuschließen. Erinnerst du dich?«
Ich nicke. Ich versuche, so wenig wie möglich zu sagen, und begnüge mich damit, ihn zu beobachten. Er hat einen eigenartigen Glanz in seinen Augen, und seine Worte klingen merkwürdig metallen. Ich nehme alles in einer deutlichen Schärfe wahr. Die Sinne eines Gefangenen können erstaunlich präzise sein.
Man sagt, dass Menschen, die zum Tode verurteilt sind, die Zusammensetzung eines Staubkorns in mikroskopischer Auflösung sehen können. Ein Insekt bis auf das winzigste Detail. Ich sage noch immer nichts. Ich leiste einen geheimen Schwur, wie ich es als Kind öfters getan habe. Er blickt mich an, mustert mich prüfend und grinst. Ich habe immer Angst, dass er meine Gedanken erraten könnte.
»Schweigen hat noch nie geschadet«, meint er. »Heute habe ich einen heftigen Tag. Ich muss mit einem Mann sprechen, der alles beim Glücksspiel verloren hat. Am Ende sogar seine Familie. Er kann seinen Frieden nicht finden. Das wird schwierig werden.«
»Wo machst du denn dieses Co-Counselling ? Das ist es doch letztendlich, was du tust, habe ich recht?«, frage ich ihn, und das nicht zum ersten Mal.
»Ja, ich mache Co-Counselling «, wiederholt er. »Im Prinzip in jeder Selbsthilfegruppe, die mich braucht.«
Ich höre einen dumpfen Schlag in meinem Schlafzimmer. Ich stehe auf und bitte ihn, mich für einen Moment zu entschuldigen. Ich gehe rüber. Die Wohnungsschlüssel habe ich in meiner Hosentasche. Dieses Mal habe ich abgeschlossen und die Schlüssel bei mir behalten. Er wird nicht wieder fortgehen, ohne sich bei mir zu verabschieden. Im Schlafzimmer kann ich nichts Außergewöhnliches entdecken. Also werfe ich auch einen Blick in die anderen Zimmer. Nichts. Vielleicht kam das Geräusch ja aus der Wohnung über mir. Die Wände sind dünn und hellhörig. Dann bemerke ich plötzlich das Rotkehlchen. Ich habe es aus Versehen im Zimmer eingeschlossen, und nun fliegt es hilflos gegen die Wand. Ich öffne das Fenster, und flugs ist es auch schon weg. Ich kehre in das Wohnzimmer zurück, um Angelo von dem Vogel zu erzählen und renne fast in meine Mutter.
»Was machst du denn hier?«, frage ich sie. Sie hat ihren Mantel anbehalten und mustert mich merkwürdig.
»Ich wollte dir etwas zu essen vorbeibringen. Ich war auf dem Markt und habe Obst und Gemüse gekauft.«
Ich drehe mich um und sehe, dass Angelo verschwunden ist. »Hast du ihm die Tür aufgeschlossen?«, frage ich und zeige auf das Sofa.
»Wem?«
»Na, dem Jungen, der hier saß.« Ich blicke sie an. Sie straft mich mit Desinteresse und beginnt die Einkäufe zu verstauen. Gebückt und ernsthaft. Na gut, lassen wir das. Aber offensichtlich hat sie mir doch zugehört:
»Da hat niemand gesessen.«
Für einen Moment glaube ich, sie könnte recht haben. Dann fange ich mich wieder und wiederhole: »Natürlich war da jemand. Ein Junge mit einem dunklen Kapuzenpullover. Da saß er.«
Sie blickt mich perplex an und spricht dann aus, was sie wirklich denkt. »Dolores, geht es dir wirklich gut? Ich fange wirklich an, mir Sorgen zu machen.«
Ich suche vergeblich die Zeitschrift mit dem Foto. »Hast du die VistoDavvero weggeschmissen? Sie lag hier, auf dem Tisch.«
»Nein. Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
»So eine Klatschzeitschrift, mit einem Foto unseres Balkons.«
»Ach, die meinst du. Ich habe sie der Nachbarin geschenkt. Sie ist übrigens draufgekommen, dass es gar nicht unser Balkon ist, sondern ihrer. Auf dem Foto, das ist Matteo, ihr Enkel, als Vampir verkleidet. Sie hat es an den Balkonpflanzen erkannt. Es sah nur so aus, als wäre es unsrer. Vergiss nicht, das auch deinem Anwalt zu sagen, damit er eine Gegendarstellung veranlasst. Wir können das beweisen: Die Bougainvillea wächst an der Häuserwand seitlich ihres Balkons empor, ist also keine Topfpflanze, die man einfach so umstellen kann. Auf dem Bild ist sie aber deutlich zu erkennen, also muss es ihr Balkon sein.«
Sie grinst. Sie gefällt mir, wie sie so dasteht und lacht. Und ich lasse mich von ihrem Lachen anstecken. Was soll ich sonst auch tun? Und für den Moment beschließe ich, meine Gedanken abzustellen.
93
18:30 LUCA RIGHI : Bist du da?
18:32 MARIA DOLORES VERGANI : Ja.
18:34 LUCA RIGHI : Ich kann mir dich gar nicht vorstellen, in deinem alten Kinderzimmer.
18:38 MARIA DOLORES VERGANI : So ist es aber.
1 8:42 LUCA RIGHI : Du fehlst mir sehr.
19:00 MARIA
Weitere Kostenlose Bücher