Ich will dir glauben
ausgeraubt und Geld sowie wertvolle Familienstücke entwendet hat. Funi stellt sich seinen Kollegen wie einen schnaubenden Stier vor, der mit seinen Hufen auf dem staubigen Boden der Arena scharrt. Und er möchte nicht an der Stelle des Mädchens sein, das jetzt nicht nur eine Anzeige wegen Diebstahls am Hals hatte, sondern auch noch Corsari im Nacken, der sie aus mehr als einem Grund suchte.
Zweitens. Das Dossier mit den Fotos ist mehr als bizarr. Darauf sind kleine mumifizierte Köpfe zu erkennen, die, selbst wenn sie vermutlich von Affen stammten, dennoch absolut menschlich wirken. Sie sind auf Stäben aufgespießt, die wohl Lanzen darstellen sollen. Er zählt etwa zwanzig Aufnahmen von Totems oder Fetischen, grauenhafte Gebilde von unverständlicher Bedeutung, wären da nicht diese roten Kreise um die perfekt strahlenden Zahnreihen. Alles Zähne, die auf den ersten Blick gesund wirken, denen aber einige faulige untergeschoben worden waren, als seien sie eben gerade erst exhumiert worden. Dem Ganzen liegt folgendes Schreiben bei:
Anbei finden Sie Aufnahmen der Werke des Künstlers Xavier Brogni, mit bürgerlichem Namen Sergio Brogni, wohnhaft in Bergamo und mit einem Atelier in der Via dei Platani 5. Die Titel der Werke sind auf der Rückseite vermerkt. Der rechtmäßige Erwerb der Zähne ist durch beigefügten Anhang belegt, in dem oben genannter Künstler erklärt, »verschiedenstes Material« käuflich erworben zu haben, unter anderem »265 Zähne, aufgeteilt in Schneidezähne, Backenzähne und Vorderzähne«, über einen in Mailand wohnhaften Zahnarzt. Die Quittungsbelege über den Ankauf des Materials, das zur Herstellung der hier abge_bildeten Kunstwerke verwendet wurde, können über seinen Steuerberater eingesehen werden. Die Werke wurden in zahlreichen zeitgenössischen Kunstmuseen ausgestellt. Die Rechnungen über den Erwerb der Zähne dienten dem Künstler als Nachweis, um sich die bei der Herstellung angefallenen Ausgaben von seinem Galeristen, für den er arbeitet, erstatten zu lassen.
Seine Hartnäckigkeit, den Dingen auf den Grund zu gehen, hatte sich also bezahlt gemacht. Aber der Fall gehört nicht ihm. Die Sache mit dem Zahnarzt, der seinen Patienten gesunde Zähne zog, ging ihn eigentlich nichts an. Er würde damit warten, bis der zuständige Kommissar wieder im Hause war.
Drittens. In der zweiten Strafanzeige, der mit dem Post-it, geht es um Verdacht auf Missbrauch der Berufsausübung. Unterzeichnet ist die Anzeige mit dem Namen Giacomo Brivio.
Der Anzeigeerstatter erklärt, es für notwendig erachtet zu haben, nach Durchsicht des Tagebuches seiner verstorbenen Schwester Giulia Brivio, das bei der Toten Anna Tura aufgefunden wurde, auf die Tatsache eines möglichen, wie er es nennt, unangemessenen Verhaltens eines Psychologen und/oder Psychotherapeuten aufmerksam zu machen, der Patienten mit Essstörungen behandelt. Dieses Verhalten im Rahmen seiner Berufsausübung …
Der Bruder von Giulia war im Präsidium gewesen und hatte gegen den Arzt Dr. Meda, Leiter der Klinik Rinascita , Strafanzeige erstattet.
»Wer hat diese Anzeige aufgenommen? Wisst ihr denn nicht, dass zu diesem Fall gerade Ermittlungen laufen, die ich leite?«, brüllt Funi, während er von seinem Büro in den Abstellraum geht, wie sie das Zimmer, wo alle Strafanzeigen entgegengenommen wurden, allgemein nennen. Der diensthabende Beamte schaut ihn entsetzt an. Er bestätigt Funi, die Anzeige geschrieben zu haben, entschuldigt sich für seinen schlechten Stil und sein Unvermögen, die Wichtigkeit der Sache sofort erkannt zu haben, aber die Schlange sei lang und die Zeit zum Nachdenken kurz. Er hat kaum den Satz beendet, als ihn ein Anruf erreicht, den Funi live miterleben darf: Das litauische Mädchen wurde aufgegriffen. Er hat ihr einen Denkzettel verpasst , teilt der Beamte Funi laut mit.
»Denkzettel?«, wiederholt Funi. Viel gedacht haben wird er sich dabei nicht. Es wird sich eher um den Wutausbruch eines Kommissars mit mangelnder Selbstkontrolle gehandelt haben. Darin waren die beiden sich nicht ganz unähnlich, schießt es ihm durch den Kopf. Er korrigiert sich in Gedanken: Mit gewissen Unterschieden. Aber dennoch nicht ganz unähnlich.
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»Der eigenen Boshaftigkeit kann man auch nur halbtags nachgehen. Quasi als Übergang von einem Stadium in das nächste. Sozusagen ein Entwicklungssprung.«
Während er spricht, spielt Angelo mit seinen Fingern. Er verwebt sie ineinander und löst sie gleich wieder. In ihren
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