Ich will dir glauben
flinken Bewegungen wirken seine Hände wie Schmetterlinge.
Ich hätte gern, dass er mich streichelt, wische den Gedanken aber schnell wieder beiseite. Ich habe das Fenster sofort geschlossen, als ich wusste, dass er kommen würde. Ich habe keine Lust, ihm jetzt gleich von dem Foto in der Zeitung zu erzählen. Vielleicht später.
»Das hat mir ein Psychotherapeut gesagt. Nach der Sache in der Schule haben sie mich gezwungen, mir professionelle Hilfe zu suchen.«
Ich höre ihm zu, bin mir aber nicht ganz sicher, ob ich ihm alles glauben kann, was er mir erzählt. Ich versuche, mir vorzustellen, wie er sich wohl außerhalb meiner Wohnung verhält. Aber es will mir kein Bild in den Kopf kommen. Er hilft anderen , das ist, was er beruflich macht. Aber was für ein Beruf soll das sein? Eine Banalität, die man als Jugendlicher so dahersagt, wenn man ehrenamtlich arbeitet. Etwas, was mir jedes Mal unangenehm aufstößt, wenn ich darüber nachdenke. Es hat den Anschein, als könne er meine Gedanken lesen. Dann beginnt er von Neuem zu sprechen. Man sieht, dass ihm jegliche Prägung fehlt, die man durch das bekommt, was man tut. Das ist so in jungen Jahren. Man lebt einfach vor sich hin, fertig. Es gibt tausend Dinge, tausend Gedanken. Hoffnungen und Möglichkeiten. Ich kehre mit meinen Gedanken wieder in die Gegenwart zurück.
»Ich habe gerade gesagt, dass der Schmerz manchmal für Sekunden jegliche emotionale Verbindung kappt. Erst ist da der Schmerz, dann eine ganze Kette an äußeren Umständen, die dich zum Handeln drängen und schließlich dieser kurze Moment der Dunkelheit. Eine Art Raptus. Und alles ist vorbei.«
»In dem Moment kommt es dir nur so vor, als sei alles vorbei. Aber dann musst du für den Rest deines Lebens dafür geradestehen«, sage ich, und es hört sich alt und verstaubt an.
»Siehst du, du schleppst den ganzen Ballast an Fehlern und Misserfolgen hinter dir her. Du schaffst es nicht, den Kreislauf der Dinge zu sehen. Anfang, Verlauf, Ende.«
Formeln, nichts als leere Formeln.
»Es gibt eine Zeit zum Töten und eine Zeit zum Gesunden. Und jetzt sag mir, dass du nicht getötet hast. Das schaffst du nicht. Und dass du nicht gesund werden willst. Das schaffst du auch nicht.«
»Darum geht es doch gar nicht. Es gibt eine von Menschen geschaffene Rechtsprechung hier auf Erden. Ich bin jemand, die dafür eintritt, dass Regeln und Gesetze eingehalten werden. Und gleichzeitig möchte ich auch die Wahrheit hinter den Dingen ergründen. Aber nicht etwa die zweifelhafte, theoretische Wahrheit. Im Gegenteil, die greifbare und praktische Wahrheit.«
Er mustert mich, zieht die Kapuze seines Sweatshirts vom Kopf. Er geht auf mich zu und streichelt mich. Dann tritt er ans Fenster. Er liebt den Balkon. Heute sind die Blumentöpfe von Schnee bedeckt, aus denen nur die winterlichen Alpenveilchen hervorlugen. Auf dem Gefäßrand der Aloe kann man lange Krallen erkennen. Den Brustkorb herausgestreckt und den Schnabel in Position gebracht, steht das Rotkehlchen da und guckt frech. Gleich wird es zum Flug ansetzen, wie immer. Meine Stimme wird lauter. Ich schreie Angelo an, die Balkontür nicht zu öffnen und packe ihn am Arm. Nicht wegen des Vogels, sondern wegen des Voyeurs. Dem, der die Fotos an die Presse verkauft haben muss.
Er hält inne. Ich spüre etwas, während ich ihn noch immer festhalte. Eine eigenartige Vibration. Ich umarme ihn von hinten, lege meinen Kopf zwischen seine Schulterblätter und rühre mich nicht. Er ist größer als ich. Kräftig. Er bewegt sich nicht. Dann dreht er sich langsam nach mir um, nimmt meine Arme von seinem Körper und verabschiedet sich mit einem Kuss auf die Wange. Das Rotkehlchen ist noch immer da, hat sich nicht von der Stelle gerührt. Bereit zum Abflug. Während Angelo meine Wohnung verlässt, eile ich zurück zu dem Tier, um nach ihm zu sehen. Wie es so starr dastand, hätte man meinen können, es halte Winterschlaf. Aber das Rotkehlchen ist weg.
90
Es gibt Wunden, die niemals verheilen. Sosehr wir auch versuchen, sie zu vergessen, auszulöschen, zu verdrängen; jedes Mal, wenn sie aus unserem Unterbewusstsein emportauchen, ist der ganze Schmerz wieder da. Es genügen einzelne Facetten, und schon leben genau die gleichen Gefühle von damals wieder auf. Aus Mangel an Alternativen fördern sie alte Träume zu Tage, mit jener Verschwommenheit, die nicht unterscheidet zwischen Verlangen und Mangel. Als verberge sich dahinter ein Geschenk, das wir nicht zu greifen
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