Ich will endlich fliegen, so einfach ist das - Roman
Markus, wenn ich mich richtig erinnere.«
»Woher wisst ihr das denn alles?«, sagt Lukas. »Ich weiß ja noch nicht mal, wie die Mädels heißen.«
Dann fragt er Silja, wo sie vorher gewohnt hat und warum sie hierhergezogen ist, und Silja erzählt ihnen das Gleiche wie mir. Ich bin ein bisschen enttäuscht. Ich dachte, das wäre so eine Art Vertrauensbeweis, dass sie mir das mit ihrer Pflegefamilie erzählt hat, aber offenbar erzählt sie das jedem.
Nils hebt interessiert den Blick und mustert sie. »Was ist mit deiner richtigen Familie? Darf man das fragen?«
Er fragt, was ich mich nicht getraut habe. Bei Lukas oder Tonja hätte mir das nicht so viel ausgemacht. Nils fragt nämlich nur nach, wenn er unbedingt was wissen will, nach Dingen, die ihn wirklich interessieren. Darum fand ich es auch so bedeutungsschwer, als er mich gefragt hat, wer denn mein Typ sei. »Du«, hätte ich antworten sollen. »Du bist mein Typ.« Dann wären wir jetzt vielleicht schon ein Paar.
Silja sieht ihn ein paar Sekunden lang an, dann stellt sie ihr Latteglas auf den Tisch und lehnt sich zurück.
»Meine Mutter hat sich das Leben genommen, als ich drei war«, sagt sie. »Und Papa ist danach zusammengebrochen. Er hat es nicht geschafft, sich um mich zu kümmern.«
Es wird mucksmäuschenstill an unserem Tisch. Tonja und ich tauschen Blicke. Tonja ist sauer, kann ich sehen. Die Bestätigung bekomme ich später auf dem Heimweg, als Tonja mit den Hüften schwingt, das nicht vorhandene lange Haar nach hinten wirft und mit dunkler, heiserer Stimme sagt: »Meine Muuutter hat sich umgebracht, sie ist toooot und ich bin sooooo arm dran, und trotzdem bin ich ja soooo cool und muuutig, dass ich dreißig Meter über den Eisenbahnschienen übers Brückengeländer balanciere!«
Das ist zwar ziemlich gemein, aber ich muss trotzdem lachen.
»Wär sie doch bloß abgestürzt!«, sagt Tonja.
Am nächsten Tag ist Emelie zurück.
Die Stimmung ist fast entspannt. Als wäre die Klasse ein verirrtes Schiff, das endlich seinen Kapitän wiederhat. Schon unten im Garderobenraum wird sie von allen umringt, die sich besorgt nach ihrer Magen-Darm-Grippe erkundigen und wie es auf Bali war.
»Total irre war’s da«, sagt Emelie und streicht sich das sorgfältig geglättete und gebleichte Haar aus den Augen. »Wir haben in dem reinsten Luxushotel gewohnt. Fünf Pools und ein eigener Strandabschnitt. Die Strände sind zwar nicht so schön wie auf den Seychellen, dafür ist aber in Bali abends viel mehr los.«
»Du bist wahnsinnsbraun!«, sagt Madeleine bewundernd.
Wir sind eigentlich alle ziemlich braun. Der schwedische Sommer war einer der sonnigsten seit Langem. Aber unsere Sonnenbräune ist natürlich nicht so teuer und exklusiv wie Emelies. Sie trägt eine exotische Batikhose und ein Dutzend klirrende Armreifen ums Handgelenk, ein ärmelloses Baumwolltop mit Aufdruck und ein schwarzes Lederhalsband mit einem silbernen Peace-Zeichen als Anhänger.
Sie sieht sich um. »Und wo ist die Neue?«
Natürlich hat Lovisa Emelie über die Neuigkeiten in der Schule auf dem Laufenden gehalten. Alle Blicke schweifen durch den großen Raum mit den blauen und grünen Schließfächern, aber Silja ist nirgends zu sehen.
Sie taucht erst auf, als wir schon vor der Spanischklasse stehen. Mit Line im Schlepptau.
Sie kommen eigentlich nicht zusammen. Line geht wie zufällig schräg versetzt hinter Silja. Außer ihnen läuft niemand durch den Flur, und sie gehen ein bisschen zu dicht hintereinander her, um nicht als zusammen betrachtet zu werden.
»Hallo«, begrüßt Silja Tonja und mich.
»Hallo«, antworte ich, Tonja nickt nur kurz.
Line bleibt ein Stück hinter Silja stehen und sagt nichts. Sie sieht sich definitiv als Siljas Begleiterin, auch wenn nicht sicher ist, ob Silja das weiß. Emelie, verdeckt von Clara, Ellen, Madeleine, Leo und ein paar anderen, steht an der Wand und unterhält sich mit Sven. Aber plötzlich teilt sich die Menge und gibt die Sicht frei. Als Sven den Kopf dreht und in Siljas Richtung schaut, tut Emelie das auch.
Silja bemerkt die plötzliche Stille und scheint zu verstehen, dass da was läuft. Sie sieht fragend von einem zum anderen, bis ihr Blick auf Emelie fällt, die ihr ja noch unbekannt ist. Aber auch sonst wäre ihr Blick sicher an Emelie hängen geblieben. Weil das mit den Blicken eben so ist. Es ist das reinste Theaterstück.
Nach einigen Sekunden, in denen sich nichts tut, sagt Lovisa: »Das ist sie. Die Neue.«
Emelie nickt.
Weitere Kostenlose Bücher