Ich will es hart
genommen auch die Frau vor ihm. Die Haare modisch durchgestuft, ein kurzes Kleid mit passender Jacke, schöne Strümpfe, moderne Pumps – aber dann diese hässlichen Preiskleber. Pfui Teufel.
Das kurze Stakkato ihrer Absätze hallte von den Gehwegplatten wider. Sie schien es eilig zu haben. Justin war neugierig zu erfahren, wo sie hinwollte. Zu dieser späten Stunde. Alleine.
Kurz bevor er die Frau eingeholt hatte, steuerte sie auf eine Eingangstür zu und verschwand dahinter. Er blieb stehen und sah sich um. Die Plakate in den Aushangtafeln links und rechts der Eingangstür kündeten eindrucksvoll einen Tangokurs für Fortgeschrittene an. Darüber ein schräger Aufkleber: Exklusiv – nur drei Tage – aus Argentinien – Marina Mendez.
Justin hatte davon in der Zeitung gelesen, war jedoch vor lauter Arbeit darüber hinweggegangen. Vielleicht war es ihm auch nicht wichtig genug erschienen. Nach all der vergangenen Zeit.
Marina Mendez galt als Meisterin des Tango Argentino. Er hatte nicht verstanden, warum sie in einer Tanzschule auftrat und bereit war, sich mit mittelmäßigen Tangodilettanten abzugeben, aber er vermutete, dass sie schlicht und einfach Geld brauchte.
Früher einmal, vor Jahren, als er noch an die große Liebe geglaubt und Eva geheiratet hatte, hatten sie beide einen Tango-Tanzkurz nach dem anderen belegt. Tango war damals zu einer seiner großen Leidenschaften geworden.
Sie waren darin so gut, Eva und er, dass diese überlegte, ob sie nicht beide ihre Berufe an den Nagel hängen und Tanzprofis werden sollten. Eine einschneidende und untragbare Frage. Justin musste darüber nicht einen Augenblick nachdenken. Er war zwar besessen von der Faszination des Tangos, aber so verrückt, alles hinzuschmeißen, was er sich aufgebaut hatte, nein, das war er nun doch nicht. Er ahnte nicht, dass ihre Beziehung ab jenem Zeitpunkt zum Scheitern verurteilt war, denn Eva gab sich damit nicht zufrieden. Ohne ihn einzuweihen, suchte sie sich einen Trainer und einen Tanzpartner, und eines Tages war sie weg.
Ab da ging Justin völlig in seiner Arbeit auf, verfiel der Sucht nach Erfolg und genoss das Gefühl, über ein stets dick gefülltes Bankkonto zu verfügen. Privat gab es nur noch One-Night-Stands und Callgirls, Spaß und Sex, aber nichts mehr fürs Herz. Dafür war er niemandem verpflichtet.
Tango. Beim Anblick des Plakats kribbelte es in seinen Füßen. Wie lange war es jetzt her? Zwei Jahre? Nein, länger. Drei, vier … egal. Musik drang durch ein gekipptes Fenster nach draußen. Jetzt, um diese Uhrzeit? Tatsächlich. Tango bei Nacht. Wie diese Marina wohl aussah? Ob sie attraktiv war? Das Plakat zeigte nur die Silhouette eines Paares beim Tango. Leuchtendes Rot auf schwarzem Hintergrund.
Wahrscheinlich war diese Marina schon alt. Eine alternde Tanzdiva.
Justin runzelte die Stirn. Er hatte den Zeitungsartikel nur flüchtig gelesen, darum wohl erinnerte er sich nicht an Details. Es war ja auch gar nicht wichtig. Schon wandte er sich zum Weitergehen, als hinter ihm Schritte zu hören waren und fröhliches, ungezwungenes Lachen.
»Beeil dich, wir kommen zu spät!«
»Ja doch!«
Frauenstimmen. Hell, unbeschwert. Justin spürte einen Stich in seinem Inneren. Wann hatte er zuletzt so frei gelacht? Er war neununddreißig, aber manchmal fühlte er sich, als wäre er fünfzig. Er sollte wirklich mal wieder an etwas anderes denken als an Arbeit und Erfolg. Das eigentliche Leben flog an ihm vorbei. Es wäre überaus ignorant gewesen, sich das in diesem Moment nicht einzugestehen.
Die Eingangstür wurde aufgerissen, und er schaute hin. Es waren zwei hübsch gekleidete Frauen, gute Figur, das Gesicht vom schnellen Laufen ein wenig erhitzt. Die eine schwarzhaarig, mit frechem Kurzhaarschnitt, die andere mit schulterlangen blonden Locken.
»Wollen Sie auch hinein?«, fragte ihn der Lockenkopf mit keckem Augenaufschlag und hielt ihm die Tür auf.
Justins Zögern währte nur Sekunden. Jetzt oder nie. Nicht nachdenken, Alter, tu es einfach.
»Wollen schon. Aber die Tango-Night ist doch bestimmt längst ausverkauft?«
»Keine Ahnung. Warum fragen Sie nicht einfach?«
Er trat hinter den Frauen ein, nahm seinen Hut ab und schüttelte die feinen Tropfen ab, die sich darauf gesammelt hatten. Ohne seine Antwort abzuwarten, hasteten die beiden Frauen kichernd die Treppe hinauf. Die eine sah sich noch mal kurz nach ihm um, zwinkerte ihm zu, wirkte interessiert, aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Dann
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