Ich will es hart
habe ich es schon weit gebracht. Denn dann hast du meinen Brief nicht einfach zerrissen. Lies daher bitte weiter und zu Ende.
Du bist eine wunderschöne Frau, aber sehr allein, da du – so vermute ich – aufgrund erlebter Enttäuschungen keinem Mann mehr in deinem Leben eine Chance einräumst.
Ich werde mich davon nicht abschrecken lassen. Denn ich habe bereits bei deinem ersten Anblick mein Herz verloren, und ich sehne mich danach, dich glücklich zu machen und dir deine einsamen Abende und Wochenenden zu versüßen.
Aurelias Mundwinkel zuckten amüsiert. Hier war tatsächlich ein Romantiker alter Schule am Werk, oder jemand, der versuchte, sie mit seiner speziellen Masche zu beindrucken. Auf einmal war ihr Misstrauen geweckt. In Sekunden flogen die vergangenen Tage an ihr vorbei. Hatte sie irgendjemandem Hoffnungen gemacht? Nein, es war nichts Auffälliges passiert, und sie hatte auch niemand Neuen kennengelernt. Sie las weiter.
Lass dich überraschen und verwöhnen. Meine Identität halte ich noch im Geheimen, um die Spannung zu erhöhen. Freue dich darauf, dass morgen etwas Besonderes für dich in deinem Briefkasten liegen wird.
Aurelia riss die Augen auf. Sie las den Satz noch einmal. War dies ein neuer Werbegag, oder war jemand hinter ihr her? Ein Stalker? Erschrocken ließ sie das Blatt auf die Tischplatte sinken und starrte es an, als wäre es giftig oder würde sie jeden Augenblick wie ein wildes Tier anspringen.
Entweder der Verfasser dieser Zeilen hatte erraten, dass sie viel alleine war, oder er hatte sie genau beobachtet und kannte ihren Tagesablauf. Fieberhaft überlegte sie, ob es einen neuen Hausbewohner gab, von dessen Einzug sie nichts mitbekommen hatte. Aber so groß war das Mietshaus nicht. Sie kannte jeden, wenn auch nur flüchtig.
Oder jemand von gegenüber? Eigentlich zog sie immer die Vorhänge zu, wenn sie das Licht anmachte. Wenn es nun ein Verrückter war, der ihr morgen mit einer Briefbombe nach dem Leben trachtete? Es sollte solche Fälle schon gegeben haben, aus Gründen, die niemand nachvollziehen konnte.
Aurelia schauderte. Am besten wäre es, den Brief zu nehmen und zur Polizei zu gehen. Vermutlich würde man sie beschwichtigen und wieder heimschicken. Wer nahm solche Briefe schon ernst? Schließlich enthielt dieser keine Drohung oder Beleidigung. Vielleicht würden die Beamten sogar sagen, freuen Sie sich doch, dass Sie einen Verehrer haben!
Fast war sie entschlossen, den Brief in kleine Schnipsel zu zerreißen. Doch dann entschied sie, ihn vorerst in das Kuvert zurückzustecken und es in einer der Schubladen des alten Sekretärs, den sie von ihrem Großvater geerbt hatte, zu archivieren. Sie würde erst mal abwarten, was geschah.
Der Spielfilm, den sie sich anschaute, war spannend und lenkte sie von dem Brief ab. Als sie zu Bett ging, war sie so müde, dass sie sofort einschlief. Aber am nächsten Morgen war die Erinnerung sofort wieder da. Den ganzen Tag über kribbelte es nervös in ihrem Nacken. Sie zögerte es hinaus heimzugehen, denn sie wusste genau: Sie würde es nicht schaffen, den Briefkasten zu ignorieren und einfach daran vorbeizugehen. Aber es ging ihr nicht aus dem Kopf. Wer schrieb einen solchen Brief, noch dazu mit dieser Sorgfalt?
Als Aurelia nach Hause kam, wurde es gerade dunkel. Sie hatte in einem Schnellimbiss eine thailändische Suppe verdrückt, nur um sich selbst zu beweisen, dass sie nicht neugierig sei. Doch nun konnte sie es kaum erwarten, den Briefkasten zu öffnen.
Nichts. Nur Werbung.
Warum war sie denn wütend statt erleichtert? Sie hatte doch nicht allen Ernstes erwartet, eine tolle Überraschung vorzufinden? Wahrscheinlich hatte der heimliche Schreiber geblufft oder es sich anders überlegt.
Tage vergingen, und Aurelia hatte den Brief inzwischen fast vergessen.
Am Samstagnachmittag klingelte die Nachbarin von nebenan.
»Guten Tag, Frau Murmann, tut mir leid, das hier wurde schon vor vier Tagen vom Postboten bei mir abgegeben, ich habe Sie aber leider an dem Abend nicht erreicht. Ich war die letzten Tage verreist, so ist es leider bei mir liegengeblieben. Sie haben bestimmt schon darauf gewartet?«
»Macht doch nichts«, beschwichtigte Aurelia. Sie bedankte sich bei der Nachbarin und schloss die Tür.
Die Absenderadresse war neutral. Irgendein Versandshop, den sie nicht kannte. Aurelia überlegte, ob sie das Päckchen ungeöffnet zurückschicken sollte. Sie hatte nichts bestellt. Das konnte nur ein Irrtum sein. Für heute war es
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