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Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Titel: Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Heim
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habe, solche Berichte zu lesen. Dieser alte Idiot ist oftmals die Ursache meiner entsetzlichen Stimmung, denn seine verfluchte psychologische Ängstlichkeit überträgt sich unwillkürlich auch auf mich.
    Im Parterre wohnen Mitte 1941 vielleicht schon Hermann Walter Oppenheimer (im Kinderzimmer) und auch Emilie Mendelsohn, die später hinauf zu den Salomons zieht. Ab dem 1.

März 1943 ist sie ein Jahr lang »untergetaucht«, bis sie denunziert wird. Am 9.

März 1944 wird sie vom Sammellager in der Schulstraße aus mit dem 50.

Transport zur Ermordung nach Auschwitz gebracht. Von ihr findet sich ein Aktenvermerk über letztes Mobiliar – festgestellt durch den Gerichtsvollzieher im Beisein der Hausmeistergattin: »1 fast wertloser Schrank und ein Vertiko, das durch Bomben beschädigt ist«.
    Dann noch Margarete Cohn, geboren im selben Jahr und Monat wie Marie, zugezogen aus der Prager Straße. Sie wird am 2.

April 1942 nach Warschau deportiert. Und noch mehr kommen und gehen in meinem Mütterhaus, das 1942 zu einem Totenhaus wird.
    Gänzlich jüdisch ist die Landhausstraße 8 nicht. Schon Mitte der Dreißigerjahre ist der alleinstehende preußische Regierungsrat R. Fuchs eingezogen. Er war bestimmt kein Nazi, sonst wäre er nicht zu einer Zeit, als schon Rassengesetze erlassen sind, Mieter bei Marie geworden. Auch wenn sein Arm nicht reicht, um das Haus und seine Bewohner zu schützen, so sorgt er doch – auch im eigenen Interesse – für manche Annehmlichkeit. So auch im kalten Winter 1941.

    Seit einiger Zeit ist es hier ziemlich kalt und kein Koks im Keller! Morgen soll etwas geliefert werden durch energischen Einspruch meines arischen Mieters F., der doch nicht frieren will.
    Im Haus gibt es nicht nur die Schicksale der »Familie« zu betrauern.

    Denke Dir, der Sohn von meinem Mieter Dr.

Fuchs ist im Osten gefallen, in einem Feldlazarett, wo man ihm erst ein Bein amputierte, und dann starb er an Blutvergiftung. Der Vater ist vollständig gebrochen und will nicht mehr leben, da er nichts weiter hatte als seinen Jungen. Zwanzig Jahre war er und studierte Medizin im 1.

Semester in Heidelberg. Tut mir schrecklich leid. Ja, ja, das Grauen sollte bald ein Ende nehmen. Ein jeder ist unglücklich in seiner Weise.
    Man ist sich nahe in der Landhausstraße 8, Marie ist trotz ihrer eigenen »Zores« eine Frau, die Trost spenden und Vertrauen erwirken kann – über alle Widrigkeiten hinweg: Im Keller, gleich neben ihren zwei Räumen, liegt die kleine Wohnung der Hauswartsleute, eine Wohnküche, eine Schlafkammer zum Garten hin und eine Toilette mit Waschgelegenheit.

    Nächsten Monat kommen, Gott sei Lob und Dank, neue Hauswartsleute. Seit einem Monat bin ich bei dem Wechsel schlimm dran gewesen, ich kann die Zeit nicht erwarten, bis ich die Nachbarschaft los bin. Zwei Wochen nach dem Einzug haben sie sich entpuppt und sind Luft für mich, immerhin doch grässlich, mit so etwas vis-à-vis zu wohnen. Das waren eben noch so kleine scherzhafte Zulagen zu allem, was man leiden muss.
    Im Frühjahr 1941 stellt Maries Hausverwalter Arthur Lieutenant – ein fleißiger Mitläufer mit menschlichen Regungen, den sie zwangsweise zu bestellen hatte – neue Hauswarte an, die Holombecks.

    Berlin, den 15.

Mai 1941
    Liebste Ille,

    ich habe, glaube ich, ein ordentliches, menschliches Ehepaar bekommen, selten in heutiger Zeit. Als die Frau hörte, dass wir Feiertag haben, brachte sie mir nach ein paar Minuten sechs herrliche Pfirsiche auf einer goldenen! Schale herein, eigenes Gewächs, wie vieles aus ihrer Laube in Marienfelde. Die Hühner und Kaninchen nehmen sie über den Winter zu uns herein, wofür ich ihnen den Schuppen und die Seite daran zur Verfügung stellte. [Der Schuppen ist Onkel Willis ehemalige Garage, woran die Längsseite jetzt offen ist und wo jetzt die Müllkästen, Gartenmöbel und Geräte stehen.] Ja, also die Hauswartsleute sind mir eine große Beruhigung für den Winter, den ich sehr fürchte, notabene wenn ich noch hier bin.
    Marie an ihrem Fenster im Souterrain
    Arthur Lieutenant und Marie kennen sich schon lange. Nachdem Marie auf dem Grundstück die sieben Garagen hatte bauen lassen, stellte sie Lieutenant als Garagenmeister ein. Über viele Jahre hinweg erlebt er die ganze Familiengeschichte und natürlich auch Ilse. Lieutenant bemüht sich, Marie den andauernden Kampf mit den Behörden, dem Finanzamt und den unzähligen Verfügungen, die sie als jüdische Hausbesitzerin nun zu

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